Roger Wüthrich, Ende August ist Schluss mit iO. War man gegen WhatsApp chancenlos?

Als wir vor vier Jahren starteten, war WhatsApp schon relativ gut etabliert. Unser Ziel war allerdings, Messaging und Telefonie ins herkömmliche Netz in einer App zu verbinden. Damit waren wir einer der ersten Anbieter und gerade WhatsApp bot diese Verschmelzung noch nicht. WhatsApp schritt jedoch auf dem Weg zum weltweiten Giganten weiter voran. Da gerade im Bereich Messaging die Kunden meist nicht mehrere Apps nutzen, ist es sehr schwierig als Schweizer Unternehmen dagegen anzutreten.

So kam iO daher, als Swisscom im Sommer 2013 die Messaging-App lancierte. © 2017 Keystone

Nun war ja WhatsApp auch schon bei der Lancierung von iO im Jahr 2013 kein Newcomer mehr. War man einfach zu spät?

Im Nachhinein gesehen könnte man das so beurteilen. Aber zum Startzeitpunkt war noch nicht klar, wie es sich weiterentwickeln würde – ich war und bin überzeugt, dass wir sehr spannende Innovationen lancieren konnten. Wie etwa die Möglichkeit, mit der App sowohl OTT (Over-the-top Content) als auch ins herkömmliche Netz zu telefonieren – da war iO eine der ersten Messaging-Apps, die das konnte. So konnten unsere Kunden iO zum Beispiel für günstiges Telefonieren im Ausland nutzen. Heute aber ist dieser Dienst kein Differenzierungsmerkmal mehr. Gerade für Schweizer Kunden hat das markant an Attraktivität verloren, da in vielen Abos eine Roaming-Nutzung inbegriffen ist. Zudem haben wir unterschätzt, dass die Datenhaltung in der Schweiz für die meisten Privatkunden im Moment noch kein Argument ist, um ihre Kommunikation auf eine andere Plattform zu verlagern. 

Konkurrent Threema aber lebt davon.

Im Zuge des NSA-Skandals stellten wir kurzfristig fest, dass unsere App viel häufiger heruntergeladen wurde. Das genügte aber leider nicht – es hätte noch deutlich mehr gebraucht, um die Kunden vom Sicherheitsargument zu überzeugen. 

Die seit Jahren in der Schweiz wohnhafte Soul-Diva Tina Turner warb 2014 in diesem Spot für iO.

Wird nun iO ersatzlos eingestellt – oder bleibt etwas davon in anderer Form enthalten?

Ja, erhalten bleibt uns das Entwicklerhaus hinter iO, NGTI. Dieses Kompetenzzentrum haben wir mit iO aufgebaut und können nun davon profitieren. NGTI kann die Technologie und ihre Erfahrung jetzt in neue Projekte einbringen - und davon gibt es einige. Das hat sich schon bewährt, als wir vor zwei Jahren die Bezahlapp Tapit gelauncht haben. Wir haben diese Technologie zuerst in Paymit und diese dann wiederum in die neue Twint-App einfliessen lassen. Die Software-Entwicklung ist ein Markt, der sich selbst ständig skaliert – jede Entwicklung, jede Erfahrung, ja auch jedes Scheitern birgt neue Chancen. Dem industriell geprägten Europa ist diese Denke noch fremd, im Silicon Valley ist das aber wegweisend – es ist quasi das Perpetuum Mobile des Erfolges.

Was passiert mit den zuständigen Mitarbeitenden?

Eingestellt wird iO per 31. August. Betroffen sind bei uns rund 10 Kolleginnen und Kollegen, für die wir eine interne Lösung suchen. Ganz ausschliessen können wir aber nicht, dass es in Einzelfällen zu Kündigungen kommt. Dafür besteht ein Sozialplan.

«Wir haben heute agilere Strukturen im Unternehmen. Start-ups gibt es quasi mitten im Konzern.»

iO hat man ja vier Jahre Zeit gegeben – war das nicht etwas lange? Zeichnete sich nicht schon früher ab, das die App scheitern wird?

Es ist ein schmaler Grat zwischen "zu früh" und "zu spät". Als ein nachhaltig agierendes Schweizer Unternehmen sind wir natürlich vorsichtiger und tendieren so dazu, im Zweifel etwas länger zu warten. Aber: In den letzten Jahren haben wir unsere internen Prozesse massiv verändert. Wir können heute Produkte schneller entwickeln und schneller auf den Markt bringen. So haben wir das Beta-Label "Nova" entwickelt, mit dem wir Innovationen schneller lancieren können. Bei Swisscom haben wir eine "Trial & Error" – Kultur etabliert – eine Kultur, die in Zukunft noch wichtiger wird. Es wäre falsch, das Feld der digitalen Innovationen einfach so den USA zu überlassen. Und wir haben punkto iO in den letzten Jahren ja auch unsere Hausaufgaben gemacht: wir haben alternative Nutzungsmöglichkeiten für die App und die Plattform geprüft. Leider hat sich keine der Optionen als zielführend erwiesen.

Tatsache aber ist: Bis heute gibt es keine europäische Antwort auf Facebook, auf Twitter oder Youtube.

Ja, und das ist sehr bedauerlich. Vor allem auch aus wirtschaftlichen Gründen, weil so gigantische Summen aus Europa abfliessen, die hier viele Arbeitsplätze schaffen könnten.

Swisscom Digital Business beschäftigt sich ja mit Innovation, mit Start-ups, mit Entwicklungen. Aus dieser Erfahrung: Ist die Schweiz überhaupt imstande, digitale Innovationen von weltweiter Durchschlagskraft zu entwickeln?

Sicher! Wir tun uns vielleicht schwer, wenn es darum geht, neue sozialen Medien zu erfinden, aber in anderen Bereichen gibt es atemberaubende Innovationen. Etwa bei Lösungen für den industriellen Sektor oder auch im Bereich Sicherheit und Gesundheit. Ein Beispiel: Wir haben im Rahmen unserer StartUp Challenge, einem Förderprogramm für innovative Firmen, vor einigen Jahren ein Schweizer Unternehmen entdeckt, das digitale Fruchtbarkeitsmesser produziert. Das Bedürfnis nach diesem Produkt ist gigantisch, weil viele Paare unter einem unerfüllten Kinderwunsch leiden. Aber der eigentliche Clou ist noch ein anderer: Die gleiche Technologie wird man dereinst vielleicht auch nutzen können, um digital zu verhüten. Allein an diesem Beispiel sehen wir: Die Ideen sind vorhanden, man muss sie nur finden, weiterentwickeln und umsetzen.

Und das tut Swisscom?

Ja, wir arbeiten nach dem Ansatz der "Open Innovation". Das heisst, dass wir Ideen nicht einfach rigoros unter dem internen Deckel halten, sondern sie gezielt nach aussen tragen. Zusammen mit Start-ups entwickeln wir sie weiter. Das verkürzt die Entwicklungszeit massiv. So haben wir schon interessante Angebote entwickelt, wie die Sprachsteuerung via Schweizer Dialekt bei Swisscom TV. Oder eine biologische Alternative zu Pestiziden, die jetzt zum Schutz vor Schädlingen bei Telefonmasten zum Einsatz kommt.

Wenn man jetzt zurückschaut – mit dem Wissen und den Prozessen von heute: Was würde man anders machen?

Rückblickend ist man natürlich immer gescheiter. Für uns ist etwas Anderes entscheidend: Nicht zuletzt dank iO verfügen wir heute über agilere Strukturen im Unternehmen. Quasi mitten im Konzern haben wir heute mehrere Start-ups. Und in dieser neuen Denkweise ist jede Erfahrung für uns ein Gewinn. Gegen aussen verschwindet iO – aber Innen eröffnen sich neue Möglichkeiten.

iO – das ist passiert

Im Sommer 2013 lancierte Swisscom eine innovative Schweizer Messaging-App: Via iO konnten Kunden nicht nur Nachrichten versenden, sondern auch mit anderen iO Nutzern telefonieren und sogar aufs reguläre Telefonnetz anrufen – ein Internet-basierter Dienst, der damals erst bei wenigen Apps möglich war.

Seither hat sich der Markt rasant verändert und die Kunden konzentrieren sich primär auf das heute zu Facebook gehörende "WhatsApp". Darum hat sich Swisscom entschieden, iO per 31. August einzustellen.

Roger Wüthrich-Hasenböhler

Roger Wüthrich-Hasenböhler ist Leiter Digital Business bei Swisscom. Sein Bereich beschäftigt sich mit der Erschliessung neuer Geschäftsfelder.

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