Der Core Banking Radar von Swisscom in Zusammenarbeit mit dem Business Engineering Institute St. Gallen (BEI) beobachtet seit 2017 die Systemunterstützung von Banken und analysiert anhand eines umfangreichen Beurteilungsmodells die relevantesten Systeme für den Schweizer Markt. Im Jahr 2022 wurden alle vormals interviewten Systeme zu ihren Veränderungen in den letzten vier bis fünf Jahren befragt. Dieser Artikel beleuchtet die Ergebnisse der Aktualisierungs-Interviews vor dem Hintergrund übergreifender Trends wie Embedded Finance, Event-getriebene Services und Plattformen.
Text: Christine Popp, BEI, Bilder: Wendy Buck, Zense GmbH
27. April 2023
Der Stellenwert von Plattformen gewinnt sowohl bei Banken als auch bei Kernbankensystem-Herstellern an Bedeutung. Plattformen verbinden nicht nur Anbietende mit Nachfragenden, sondern auch Anbietende unterschiedlicher Industrien sowie Endkunden untereinander (Multi-Sided Market). So können sie vermehrt Endkundenbedürfnisse mittels Event-getriebener Services entlang des Customer Journeys erfüllen. Dies ist mit der bekannten Multikanalarchitektur bis jetzt nur eingeschränkt möglich.
Auch die Bankindustrie setzt aufgrund der Fokussierung auf Customer Journeys verstärkt auf Integrations-Plattformen und fördert Banking as a Service (BaaS). Ausgestaltungsmöglichkeiten sind die Einbindung teils bankfremder Services auf einer Integrationsplattform der Bank oder die Weitergabe von Kundendaten (mit entsprechendem Einverständnis) im Vertrauensnetzwerk zwischen Banken. Zudem sind viele Banken aufgeschlossen, im Rahmen von Embedded Finance ihre bankfachlichen Services auf anderen Plattformen einzubetten.
Die Nutzung von Integrationsplattformen wie zum Beispiel bLink von SIX, Swisscom Open Business Hub oder auch Plattformen von Banken, welche zunehmend entstehen, bedingt offene Schnittstellen und eine offene Architektur. Banken bauen deshalb vermehrt Integrationskompetenz und IT-Knowhow auf und streben nach mehr Unabhängigkeit von ihrem Kernbankensystem.
Die Kernbankensystem-Hersteller sind sich diesen Entwicklungen bewusst und bestrebt, eigene Integrations-Plattformen zur einfacheren Einbindung von TPP (Third Party Provider) Services und Banken zu bauen und diese zu verbinden. Sie haben unterschiedliche Initiativen zur Neupositionierung und der (teilweisen) Erneuerung ihres Systems gestartet.
Der Core Banking Radar hat die acht für die Schweiz relevantesten Kernbankensysteme bereits in den Jahren 2017/2018 mit einer umfassenden Methodik untersucht. 2022/2023 erfolgte nun eine Neuauflage der Interviews mit Repräsentanten dieser in der Schweiz etablierten Systeme, um zu erfahren, in welche Richtung sich die Systeme weiterentwickelt haben.
Im Jahr 2018 kündeten die Systemhersteller an, sich in den nächsten Jahren in den Themenbereichen Kundendatenanalyse, Business Process Management, Wallets für digitale Währungen, Finanzierungsberatung und Client Self Service weiterentwickeln zu wollen.
Auf folgende konkrete Themen fokussierten die Systeme ihre Entwicklungen über die letzten fünf Jahre tatsächlich (sortiert nach Anzahl Nennungen unter den Kernbankensystemen):
Trotz den Investitionen und Weiterentwicklungen zeigt sich im Graph des Core Banking Radars, welcher 193 Kriterien in fünf funktionalen und sechs nicht-funktionalen Kategorien erfragt (siehe Methodik), im Durchschnitt der acht untersuchten Kernbankensysteme nur leichte Anpassungen:
Abbildung 1: Entwicklung der funktionalen Abdeckung: Minimum, Durchschnitt und Maximum der acht Systeme
Kernbankensysteme haben sich in den letzten Jahren mit vier übergreifenden Aktivitäten beschäftigt, welche der Graph reflektiert:
Die unterschiedlichen Angebote der Hersteller werden nach wie vor differenziert gemäss Profil und Bedürfnis jeder Bank nachgefragt, wie bereits der Artikel One Size doesn’t fit all aufzeigte.
Abbildung 2: Entwicklungsfokus in den letzten fünf Jahren
Das Hauptaugenmerk der Systemhersteller auf Erneuerung der Infrastruktur, Stabilisierung, Partnering und Ergänzung spezifischer Services lässt sich gemäss den Interviews auch für die nächsten Jahre erwarten.
Funktional
Funktional sind die Systeme schon so weit, dass der Fokus in Zukunft wenig auf der Einführung neuer Funktionalitäten liegen wird. Natürlich werden regulatorische Neuanforderungen implementiert, wie bspw. Instant Payment oder das Datenschutzgesetz Schweiz. Neue Funktionalitäten in Arbeit sind die Hybride Beratung und das Portfolio-Risikomanagement. Zudem möchten einige Systeme weitere webbasierte Frontends (Beratung, Vorsorge, etc.) einführen.
Die Ergänzung spezifischer Services wird auch in Zukunft im Fokus stehen, insbesondere digitale Währungen gehören weiterhin zu den explizit genannten Entwicklungsbereichen.
Nicht-funktional
In Bereich der Architektur sprechen die Hersteller davon, in den nächsten Jahren in neue Infrastrukturunterstützung, Cloud-Fähigkeit, SaaS und BaaS sowie in die Öffnung via Open API zu investieren. Auch die Bereitstellung von Funktionalitäten im Rahmen von Embedded Finance ist für einige Systeme ein Thema der nächsten Jahre.
Microservices sind auf der Roadmap vieler Anbieter zu finden und unterstreichen damit das Augenmerk auf die Erneuerung der Infrastruktur.
Im Bereich Betreibbarkeit zahlen die geplante Erhöhung des Automatisierungsgrades sowie die Reduktion der Downtime auf das Konto der Erneuerung und Stabilisierung ein.
Abbildung 3: Die bewährten Systeme erneuern sich kontinuierlich und lassen an Schnittstellen gezielt Zusatzleistungen andocken
Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die befragten Systeme mit jeweils einem Zitat aus dem Interview.
Avaloq
Avaloq bedient mit seinen umfassenden Bankenfunktionalitäten 160 Kundenbanken. Avaloq setzt zunehmend auf eine offene Architektur und offene Schnittstellen. Manche von Avaloqs Suiten, so beispielsweise das Frontend „Engage“, können als eigenständige Lösungen eingesetzt bzw. in andere Systeme – auch Kernbankensysteme - integriert werden. Avaloq hat auch eine Krypto Asset Plattform entwickelt und baut verstärkt auf Cloud-Fähigkeit:
«Wir wollen Cloud zum Standard machen und in 15 Märkten eine aktive
Rolle spielen. Wir werden unsere Synergien mit NEC und globalen Partnern weiter
nutzen, um neue Märkte zu erschließen, darunter Japan und die USA.»
Finnova
Finnova ist die zweite etablierte Schweizer Lösung und im Einsatz bei mehr als 100 Retail-, Regional- und Privatbanken. Finnova unterstützt die Kundenzentrierung mit Funktionalitäten zur Erstellung einer 360-Grad-Sicht auf die Kundschaft und Segmentierung anhand von transaktionalem Verhalten (wie beispielsweise Frequent Traveller). Neben ihren Kernfunktionalitäten rund um die Transaktionsverarbeitung zeichnet sich Finnova durch diverse Partnerschaften im Ecosystem aus (beispielsweise SecuChat Suite von jemmic zur Kundenkommunikation oder Loan Advisory von Inventage als vollintegrierte Komponenten), um kundenorientierte Funktionsanforderungen abzudecken.
«Wir bieten eine eigene und komplette Lösung für die Schweizer Kundschaft. Jede dritte Bank in der Schweiz läuft auf Finnova. Bei Funktionalitäten, die wir nicht als Aufgabe des Kerns betrachten, wie beispielsweise der Marktanalyse, arbeiten wir gerne mit Partnern im Ecosystem zusammen. Bei der Open Platform sind wir in den letzten vier Jahren sehr weitgekommen, indem wir sie inklusive Integrationskomponente und Datawarehouse entwickelt und bei mehreren Kunden live gebracht haben.»
Finstar
Finstar ist ein offenes Schweizer Kernbankensystem, das flexibel parametrisierbar und mehrsprachig durch das Entwicklerteam der Hypothekarbank Lenzburg aufgebaut wurde und heute für andere Banken und Finanzdienstleister als SaaS zur Verfügung steht. Finstar setzt auf offene Schnittstellen und bietet sowohl Fintechs als auch bankfremden Unternehmen im Rahmen von BaaS vielfältige Dienstleistungen in den Bereichen Konten, Zahlungsverkehr, Kreditanbahnungsprozesse oder Karten an.
«Das System Finstar entstand in einmaliger Zusammenarbeit zwischen den Technologie- und Bankfachexperten einer mittelgrossen Schweizer Regionalbank (Anm. der Red.: der Hypothekarbank Lenzburg, HBL). Tauchen im Verkaufsgespräch bei Interessenten von Finstar-Services bankspezifische Anwendungsfragen auf, so holen wir jeweils jemanden von der Bank, um diese zu beantworten. Das funktioniert, weil die HBL nahe am Produkt Finstar ist.»
IBIS4D
IBIS4D, das Kernbankensystem, welches neu zur Firma aity (vorher DXC) gehört, setzt auf einen modularen Aufbau, in dem Servicecontainer bankfachliche Services gruppieren. Die offene Architektur erlaubt die Zusammenarbeit mit anderen Plattformen und das Angebot von Plattformfunktionalitäten. Im Bereich Business Finance Management weist IBIS4D erste Multibanking Erfahrungen vor. Für die BEKB hat aity einen Blockchain Marktplatz namens SME|X für kleinere Aktiengesellschaften entwickelt.
«IBIS4D ist eine Zusammenstellung von voneinander entkoppelten Applikationen und verzichtet vollständig auf Mainframe und Siloarchitektur. Damit erlaubt es im Sinne von Best of Breed die Wahl zwischen Eigenentwicklung und Standardsoftware.»
OLYMPIC Banking System (ERI)
OLYMPIC Banking System ist ein von ERI entwickeltes und verkauftes Kernbankensystem, das nationale- und internationale Privat- und Universalbanken bedient. Vom klassischen Lizenzierungsgeschäft herkommend ist OLYMPIC Banking System heute für internationale Banken auch als SaaSOffering beziehbar. Die service-orientierte Architektur rund um einen gewachsenen Kern mit über 5'600 Services erlaubt die Integration mit anderen Systemen. So können beispielsweise Kryptos als Vermögenswerte verbucht werden. In der Entwicklung von APIs hält sich OLYMPIC Banking System an Industrie Standards.
«OLYMPIC Banking System läuft in 65 Ländern, weshalb wir aus technologischer Sicht vieles anders machen als andere Anbieter. Wir stellen den Banken ein umfangreiches Regelwerk zur Verfügung, mit welchem sie neue Finanzprodukte wie zum Beispiel Kredite gestalten können. Wenn eine Bank ein spezifisches Produkt nicht erstellen kann, erstellen wir nicht unbedingt das Produkt spezifisch für sie, sondern verbessern das Regel-Modell, so dass die Bank das Produkt selbst aufbauen kann.»
Sopra
Die französische Sopra Banking Software ist aktuell in der Übergangsphase zu einer komplett Cloud-nativen Architektur. Im Zuge der Transformation hat die Kundschaft die Wahl, auf der bestehenden On-Premise Lösung zu bleiben, oder schrittweise SaaS aus der Cloud zu beziehen. Der Kern (Booking Engine und Verarbeitung) dieser neuen Generation ist standardisiert und nicht anpassbar, dafür günstig. Integrierte Umsysteme und ein offener Integration Layer mit Partner-Marktplatz erlauben das Hinzufügen kundenspezifischer Funktionalitäten aus dem Ecosystem.
«Wir möchten unseren Kunden helfen, mittels künstlicher Intelligenz so viel wie möglich zu automatisieren, im Bereich der Kreditprüfung ist das beispielsweise eine eigenständige Cloud Komponente.»
TCS BaNCS
Das Kernbankensystem der indischen Tata-Gruppe hat den Anspruch, sämtliche Funktionsanforderungen selbst abzudecken. Das System verfügt über eine hohe Modularisierung, ist cloud-ready und bietet ein nutzungsabhängiges Lizenzmodell. Neben Banken zählt TCS BaNCS auch Versicherungen zu seinen Kunden. Der Servicebereich Zahlen wurde zuletzt in Microservices abgebildet, Anlegen und Finanzieren sollen folgen. Zudem hat TCS stark in Distributed Ledger Technologie und APIs investiert.
«Jeder vierte Mensch auf der Welt hat ein Konto, das über TCS BaNCS gebucht wird. Unsere Kunden profitieren von unserer globalen und regionalen Präsenz und wir erfüllen lokale Anforderungen durch unsere starke Erweiterbarkeit. »
Temenos
Temenos bietet Composable Banking, das heisst die Bank stellt ihre individuelle Lösung durch Kombination von Funktionen von Temenos und sogenannten Exchange Partners zusammen. Jedes Produkt definiert seine eigenen APIs (sogenannte Open Products). Einzelne Module lassen sich auch in bestehende Systemlandschaften integrieren. Das System läuft je nach Wunsch der Bank auf der Cloud (Temenos Cloud, privat oder öffentlich) oder vor Ort installiert.
«Bei der Umstellung auf ein verteiltes System legen die Banken Wert auf Sicherheit, so zum Beispiel rollenbasierte Zugangskontrolle. Security Everywhere ist etwas, das wir sehr ernst nehmen.»
Vor dem Hintergrund von Trends wie Embedded Finance und Event-getriebene Services wird die Vernetzung immer relevanter.
Bestehende Kernbankensysteme sind bestrebt, den Anschluss zu ermöglichen bzw. nicht zu verlieren, indem sie unter anderem in offene Schnittstellen und Cloud-Fähigkeit investieren. Dies ist aufgrund ihrer häufig über die Jahre gewachsener, monolithischer Architekturen nicht einfach und bedingt eine Neuausrichtung der bestehenden Systeme.
Neben der schrittweisen Erneuerung der Infrastruktur lassen sich zunehmend eine Optimierung des Systems sowie Ergänzungen um spezifische Services wie Instant Payment oder Kryptowährungen beobachten. Im Rahmen des Ausbaus von Partnerschaften zur Unterstützung der Customer Journey werden immer mehr Funktionalitäten ausserhalb des Kerns entwickelt, was das Einsatzgebiet des eigentlichen Kerns verkleinert.
Alle Hersteller beschäftigen sich mit der Öffnung des eigenen Systems, auch wenn sich der Grad der Öffnung je nach fachlicher Ausprägung unterscheidet. Demzufolge bedingt die Investition in eine API Management Plattform eine eindeutige Positionierung und die Definition der eigenen Integrationskompetenz. Dies bedeutet für Kernbankensystem-Hersteller ein Abwägen oder eine Kombination der folgenden Optionen:
Stufe 1: Individualintegration
Positionierung als Provider ohne Integrationsplattform, der dennoch API-Anbietende und Konsumierende (Fintechs und Banken) koordiniert und eigene APIs zur Integration in andere Plattformen (BaaS Dienstleistungen) zur Verfügung stellt.
Stufe 2: Integrationsplattform
Angebot eines Sets an aggregierten und kombinierbaren APIs auf einer Integrationsplattform (Finnova Open Platform oder Swisscom Integration Layer).
Stufe 3: API Marktplatz
Bereitstellung einer Plattform bzw. eines API Marktplatzes (über beispielsweise SIX bLink oder Swisscom Open Business Hub), bei welchem auch Drittanbieter ihre Services platzieren.
Während die etablierten Kernbankensysteme demnach technologische Entwicklungen nachholen, stehen die Neo-Kernbankensysteme hingegen vor der Herausforderung ihre funktionalen Lücken zu schliessen. Spannend bleibt zu beobachten, was einfacher ist und wer in diesem Rennen mittelfristig die Nase vorn haben wird.
Der Core Banking Radar beobachtet und analysiert weiterhin die Entwicklungen im Kernbankenmarkt Schweiz. Ein nächster Artikel wird die zuletzt beschriebenen Erfolgsfaktoren für Banken und Kernbankensystemhersteller in einer Strukturierung der Transformation zusammenführen.
Business Engineering Institute St. Gallen
Swisscom und das Business Engineering Institute St. Gallen (BEI) pflegen eine langjährige Partnerschaft im Rahmen des Kompetenzzentrums "Ecosystems". Dieses bearbeitet Themen wie Ecosysteme, Digitalisierung, Transformation sowie Fragestellungen rund um die zukünftige Ausgestaltung der Finanzindustrie. Ergänzend zu den Forschungsaktivitäten führt das BEI Projekte zur Gestaltung und Umsetzung innovativer, branchenübergreifender Geschäftsmodelle durch.
Methodik des Kernbankenradars: https://ccecosystems.news/core-banking-radar-methodik/
https://ccecosystems.news/anwendungsbeispiel-referenzmodell-vom-bankmodell-zum-core-banking-radar/