Digitale Transformation

Wo die Innovation in der Tradition verwurzelt ist

Die Digitalisierung zwingt viele Schweizer Traditionsunternehmen auch in der herstellenden Industrie zu tiefgreifenden Veränderungen, um überlebensfähig zu bleiben. Die Dätwyler Cabling Solutions in Kanton Uri macht vor, wie man Tradition und Innovation zusammenbringt.

Text: Hansjörg Honegger, Bild: Dätwyler Cabling Solutions

Innovative Firmen verdienen Geld – mit neuen oder verbesserten Produkten, Gesamtlösungen und Services. Die Schweiz ist in vielen Statistiken Innovationsweltmeisterin. Doch der Trend zeigt in eine andere Richtung: Für 2016 gaben 54,6 Prozent der Schweizer Industriebetriebe an, Produkt- oder Prozessinnovationen einzuführen. Noch 2014 lagen die Schweizer herstellenden Betriebe mit 60,2 Prozent weltweit an der Spitze. Das zeigt die Studie «Forschung und Innovation in der Schweiz 2020» vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SFBI.

Die Ursachenforschung ist komplex, das zeigt die Studie ebenfalls. Das Zusammenwirken von Bildungsinstituten, Staat und Wirtschaft sowie die Möglichkeiten des Wissens- und Technologietransfers spielen eine ebenso grosse Rolle wie die interne Organisation der Firmen und die gelebte Innovationskultur.

Verwurzelt in der Bevölkerung

Um Innovation wirklich leben zu können, genügt es nicht, sich das einfach nur vorzunehmen oder in der Hochglanz-Firmenbroschüre zu erwähnen. Es bedingt eine Firmenkultur, die offen ist für Neues, die bereit ist, sich den Herausforderungen zu stellen und sich entsprechend zu verändern. Der Kanton Uri beherbergt ein Traditionsunternehmen – gegründet 1915 –, das diesen Weg beispielhaft geht: Dätwyler Cabling Solutions. Zusammen mit dem Schwesterunternehmung, der Dätwyler Holding AG, ist der Betrieb grösster Arbeitgeber des Kantons und stark verwurzelt in der Bevölkerung. «Bei uns gibt es Mitarbeitende, deren Eltern und Grosseltern schon bei Dätwyler arbeiteten», sagt Adrian Bolliger, Managing Director Europe von Dätwyler Cabling Solutions.

Adrian Bolliger, Managing Director Europe von Dätwyler Cabling Solutions

«Es braucht die Bereitschaft von allen im Unternehmen, die Veränderung herbeizuführen.»

 

Adrian Bolliger, Managing Director Europe von Dätwyler Cabling Solutions

Doch die Traditionsfirma operiert in einem sehr kompetitiven Umfeld: Sie hat sich im Markt für Verkabelungssysteme international einen Namen gemacht. «In diesem Segment wird aber heute vieles hauptsächlich über den Preis definiert», so Bolliger. Schwierige Voraussetzungen für ein Unternehmen im Hochlohnland Schweiz, das vor allem mit Qualität, Service und Innovation punktet. Das Geschäftsmodell musste sich verändern. Dies jedoch möglichst ohne die loyalen, langjährigen und gut ausgebildeten Mitarbeitenden zu verprellen.

Die Schweiz wird überholt

Gemäss der SFBI-Studie gibt es zwei Möglichkeiten, mit Innovationen Geld zu verdienen: Entweder entwickelt man ein für die Firma neues, innovatives Produkt, das von der Funktion her vergleichbar ist mit anderen, bereits bestehenden Produkten: eine Unternehmensneuheit. Oder man bringt etwas komplett Neues: eine Marktneuheit. Der Umsatzanteil für Unternehmensneuheiten liegt in der Schweiz für Industriebetriebe bei rund 15 Prozent, jener für Marktneuheiten bei rund 7 Prozent. Im Vergleich mit anderen Ländern liegt die Schweiz bei den Marktneuheiten zurück: In den Niederlanden liegt dieser Wert bei 16,5 Prozent, in Italien bei 12,6 Prozent oder in Frankreich bei 11,5 Prozent.

 

 

Adrian Bolliger ist sich der Problematik bewusst: «Wir sind stark im Weiterentwickeln und Optimieren unserer Produkte und Lösungen». Doch das reicht heute nicht mehr. Manchmal müssen Geschäftsmodelle völlig neu gedacht werden. Bei Dätwyler Cabling Solutions heisst das: vom Kabelhersteller zum IT Solution Provider. «Die Kunden erwarten immer häufiger eine gesamtheitliche Beratung, wenn es um IT-Infrastruktur geht, und weniger eine isolierte Sicht, die nur auf die Verkabelung fokussiert. Genau dort setzen wir an, indem wir für unsere Kunden nachhaltige IT-Infrastrukturen anbieten, die sich den Bedürfnissen anpassen.» Dabei geht es auch um Investitionen beziehungsweise Investitionsschutz. Die Datenmengen nehmen rasant zu, doch nicht alles muss in die Cloud, im Gegenteil: Es besteht durchaus ein Trend, viele Daten gleich vor Ort zu verarbeiten. «Genau diesen Trend haben wir schon vor Jahren erkannt und zu einer unserer neuen Kernkompetenzen gemacht: Flexible und schnelle Lösungen, die den Datenfluss optimieren im Hinblick auf Sicherheit, Geschwindigkeit und Nutzen», erklärt Bolliger. Von der Beratung bis zu Ausführung, Unterhalt und Wartung hat sich Dätwyler Cabling Solutions zum Service Provider gewandelt.

Lernen im eigenen Betrieb

Auch die Art und Weise, wie Produkte und Services entwickelt werden, verändert sich. Um im Kontext IoT zu lernen und Services für den Markt zu bauen, vernetzt die Dätwyler Cabling Solutions beispielsweise ihre eigenen Maschinen, bringt die Daten in die eigenen Mini- Datenzentren und beginnt, mit den Daten die Produktionsprozesse zu optimieren. «Hier arbeiten wir mit Swisscom und der internen IT zusammen, um eine optimale Lösung zu bauen,» so Bolliger. Die Veränderung der Produktentwicklung ist ein langer und steiniger Weg, den Dätwyler bewusst geht. So lernt die Firma gleich am eigenen Beispiel, wie es geht, und kann diese Kompetenz anschliessend ihren Kunden vermitteln. «Auch hier geben sich zusammen mit Swisscom spannende Perspektiven, um den Markt gemeinsam anzugehen.»

Dätwyler Cabling Solutions will sich weiterentwickeln, vom Kabelhersteller hin zum Serviceanbieter.

Der Weg zu einer Firma, die zwar noch immer Kabelsysteme produziert und dafür weltberühmt ist, aber bei den Kunden und Partnern nun aber auch weiterreichende Lösungen anbieten will, ist lang und will akribisch geplant sein. Denn wer Innovation bewusst organisiert und fördert, ist erfolgreicher als Firmen, die darauf hoffen, dass die zündende Idee schon von irgendwem kommt. Auch das zeigte die Studie des SFBI.

 

Die Unternehmensleitung hat einen Plan erarbeitet, der innert vier Jahren umgesetzt werden soll (siehe Box «Die 6 Workstreams»). «Wir arbeiten in sechs so genannten Workstreams, die jeweils von einem Mitglied der Unternehmensleitung geführt werden», so Bolliger. «Bis 2022 soll die Firma neu aufgestellt respektive ausgerichtet sein. Das Transformationsprojekt nennen wir ‹WeMove›.»

Es geht nur mit den Mitarbeitenden

Eine Umstrukturierung dieses Ausmasses zieht selbstverständlich auch Veränderungen für die Mitarbeitenden nach sich. Und hier sind wir wieder beim Traditionsunternehmen Dätwyler. Bolliger nickt ernst, wenn er auf dieses Thema angesprochen wird. «Es braucht die Bereitschaft von allen, die Veränderung herbeizuführen. Wir machen das gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden. Wir erklären genau, warum es nötig ist, was wir aus welchem Grund verändern und welche Fähigkeiten dabei gebraucht werden. Die meisten Mitarbeitenden verstehen das und gehen den Weg mit uns.» Adrian Bolliger ist auch bereit, seinen Mitarbeitenden die nötige Zeit zu geben. Jenem Abteilungsleiter etwa, dessen Team für das Projekt «Lean-Management» ausgesucht wurde. «Er hatte plötzlich einen völlig anderen Job. Ich gab ihm ein Buch zu lesen mit vielen Hintergrundinformationen, wir diskutierten die Anforderungen gemeinsam. Nach einiger Zeit kam er zu mir und meinte: Das mache ich!».

 

Das 105-jährige Traditionsunternehmen geht den Weg in die Moderne gemeinsam mit seinen Mitarbeitenden. Wie in den 80er-Jahren, als die Produktion von Glasfaserkabeln dazu kam – auch das war damals eine unerhörte Innovation. Eines ist für Bolliger aber klar: «In unserer DNA bleiben wir immer eine produzierende Firma und werden nie ein reiner Dienstleister.» Das ist vermutlich auch gut so. Ganz sicher gehört Dätwyler Cabling Solutions bereits heute zu den 54,6 Prozent der Schweizer Firmen, die innovativ unterwegs sind.


Die 6 Workstreams der Veränderung

Dätwyler Cabling Solutions erfindet sich in einem kontrollierten Prozess neu. In sechs Workstreams wird die Veränderung innert vier Jahren umgesetzt.

 
1. Strukturen

Baut die zukünftige Organisation, welche den Anforderungen eines IT-Unternehmens gerecht wird. Schlanke und agile Organisationsformen sind Teil des Erfolgsrezepts, um auch neue Services und Produkte schnell zu entwickeln. Zum Beispiel wurde neben Produktmanagement auch Business Development eingeführt, um sich mehr um radikale Innovationen zu kümmern.

 

2. Prozesse

Alle Prozesse und Tools werden überarbeitet und wo nötig und sinnvoll digitalisiert bzw. automatisiert, um effizient und schlagkräftig agieren zu können. Dazu gehört beispielsweise der. Einsatz von RPA (Robotics Process Automation) beim Inside Sales.

 

3. Interne Kommunikation

Die Kommunikation zu und zwischen den Mitarbeitenden wird in diesem Workstream überarbeitet. Hierzu werden verschiedene Kanäle eingesetzt, um zum Beispiel Mitarbeitende in Produktion und Vertrieb in den verschiedenen Ländern mit den relevanten Botschaften zu erreichen.

 

4. Externe Kommunikation (Marketing)

Der Brand «Dätwyler Cabling Solutions» ist erstklassig, aber auch klar positioniert. Damit Dätwyler noch viel stärker als IT-Unternehmen wahrgenommen wird, sind einige Anpassungen erforderlich. Zum Beispiel wird für die externe Kommunikation immer mehr Social Media eingesetzt, aber auch der Brand wird in den nächsten Wochen zu Dätwyler IT Infra angepasst. So wird das Beste aus beiden Welten vereint: Dätwyler als starker Brand und die Wahrnehmung, ein IT-Anbieter zu sein.

 

5. Innovation

Neue Innovationen, evolutionärer aber auch revolutionärer Art, werden hier definiert, rund um Verkabelungssysteme wie auch um das IT-Geschäft. Beide Welten werden in Use Cases zusammengefasst, um gesamtheitliche Lösungen anzubieten. Die Art, wie entwickelt wird, z.B. Wasserfallmodell und oder Scrum, wird in Workstream-Strukturen definiert.

 

6. Fähigkeiten

Das Beste aus beiden Welten wird in diesem Workstream vereint: Einerseits die Mitarbeitenden, sich zum Teil seit Jahrzehnten im Umfeld der Verkabelungssysteme einen Namen gemacht haben. Andererseits aber auch neue Fähigkeiten, die im IT Umfeld erforderlich sind. Dies erreicht Dätwyler Cabling Solutions dank einem vernünftigen Mix zwischen Training der Mitarbeitenden und Rekrutierung von Fachleuten.


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