Die Steuerverwaltung Winterthur bietet seit Dezember als erste Schweizer Verwaltung in einer Pilotphase einen Live-Video- und Textchat für ihre Kunden an. Wie die Steuerverwaltung zum digitalen Vorzeigeobjekt wurde, warum die Kunden lieber schreiben als sich zeigen und wie das Projekt die Arbeitskultur in der Steuerverwaltung durcheinandergebracht hat.
Text: Tanja Kammermann, Bilder: Yves Weckemann, 19. März 2019
Es ist zehn vor acht Uhr morgens, Rocco Selladurai (27) betritt den Neubau genannt Superblock der Stadtverwaltung Winterthur an der Pionierstrasse. Herr Selladurai ist Steuersachbearbeiter und leistet heute Dienst am Online-Schalter. Die Arbeitsplätze dafür sind im ehemaligen Raum für stilles Arbeiten im 1. Stock eingerichtet. Dort loggt er sich zuerst auf einem normalen PC der Steuerverwaltung ein. Daneben steht ein Laptop mit Webcam, wo er sich ebenfalls anmeldet und bereitet die Kopfhörer vor. Kurz nach acht Uhr poppt ein Fenster auf dem Bildschirm des Laptops auf: Die erste Kundin meldet sich per Textchat.
Für Rocco Selladurai ist die Arbeit mit Chat und Video keine grosse Herausforderung. Er ist eine erfahrene Person, war von Anfang an im Projektteam dabei und konnte die Lösung mitentwickeln. Er arbeitet teilweise auch am Schalter des Steueramtes und ist es sich gewohnt, sein Gesicht zu zeigen. Für einige Arbeitskollegen jedoch ist die Arbeit per Online-Kanal in der Kundenberatung neu – und darum eine Herausforderung.
Für die meisten Menschen ist das Ausfüllen der Steuererklärung mit Unsicherheiten verbunden. Was viele nicht wissen ist, dass jede Steuerverwaltung Fragen und Anliegen ihrer Bürger beantwortet, so auch Winterthur. Oftmals aber haftet Steuerverwaltungen den Ruf an nicht sonderlich innovativ zu sein, was das Steueramt Winterthur eindrücklich wiederlegt. Als erste Verwaltung in der Schweiz bietet das Steueramt Winterthur seit Dezember 2018 in einer Pilotphase neben den üblichen Kanälen einen Text-und Videochat für seine Kunden an. «In erster Linie soll es die Kundschaft so einfach wie möglich haben, ihre Steueranliegen zu klären, sagt Matthias Kallen, Prozess- und Projektleiter im Steueramt Winterthur.
Matthias Kallen, Prozess und Projektleiter im Steueramt Winterthur ist überzeugt vom neuen Kanal und treibt das Projekt voran.
Video- und Textchats sind technologisch nichts wirklich Neues, in Branchen mit Online-Shops, aber auch bei Banken und Versicherungen sind sie im Kundendienst nicht mehr wegzudenken. In der Verwaltung hingegen kennt man diesen Kommunikations-Kanal noch kaum. Da sich aber die Gesellschaft zunehmend digitalisiert, erwartet sie das auch von den Behörden. Zudem leiden auch Verwaltungen unter Spardruck und Schalter an Top-Locations sind teuer.
Winterthur profitiert von einer fortgeschrittenen Smart City-Strategie, die unter anderem digitale Vorhaben mit einem Innovationskredit fördert. Der Digital Officer der Informatikdienste der Stadt Winterthur (IDW), Christoph Zech, ist gleichzeitig der Smart City-Programmleiter. Er machte die Idee des Live-Online-Schalters innerhalb der Verwaltung zum Thema und suchte einen geeigneten Technik-Partner, der mit der Swisscom gefunden wurde.
Christoph Zech, der Digital Officer der Informatikdienste der Stadt Winterthur (IDW) ist gleichzeitig der Smart City-Programmleiter.
Das Steueramt war von Anfang überzeugt von der Idee, hat das Projekt im Rahmen von Smart City als Innovationsprojekt eingereicht und den Zuschlag bekommen. «Wir sammeln nun Erfahrungen mit diesem neuen Kanal, die wir dann mit der ganzen Verwaltung teilen können», erklärt Matthias Kallen.
Wenn Bürger heute einen persönlichen Kontakt mit der Gemeinde wünschen, müssen sie je nachdem einen halben Tag freinehmen. Das ist dank dem Videochat in Zukunft nicht mehr unbedingt nötig. «Es gibt sogar schon Firmen, die Räume extra für Video-Gespräche anbieten», sagt Matthias Kallen. «Wir wollen herausfinden, welches Potential das neue Medium für Verwaltungen hat.»
Für das Projektteam tauchten verschiedene Fragen auf: Richten wir den neuen Schalter mitten im Grossraumbüro ein? Wo vielleicht Lärm herrscht und jemand mit einer vertraulichen Steuererklärung durchs Bild läuft? Welche Mitarbeitenden nehmen wir für diese Arbeit: Generalisten oder Spezialisten? Zu welchen Zeiten soll der Dienst angeboten werden? «Da wir keine Erfahrungswerte hatten, war es für uns wie ein Schuss ins Blaue», sagt Kallen.
Die Technik war schnell aufgebaut und funktionierte sofort problemlos: «Eine grosse Aufgabe war es die Mitarbeiter für die Arbeit am Online-Schalter zu motivieren. Die Idee stiess nicht überall auf fruchtbaren Boden», so Kallen. Fragen und Ängste tauchten bei den Mitarbeitenden auf: «Muss ich mich vor der Kamera präsentieren? Wenn ich einen unbeliebten Steuerentscheid treffen muss, spricht mich die Person dann vielleicht im Migros an? Kann ich meine tägliche Arbeit trotzdem noch erledigen? Wird mein Bild dann im Internet auftauchen?» Matthias Kallen hat sich mit den grössten Skeptikern hingesetzt und alle Bedenken ernst genommen. Am Ende, nach vielen Diskussionen, gab es dann doch genügend Freiwillige für das Projekt. Was war auschlaggebend? «Ich habe ihnen erklärt, dass wir etwas tun dürfen, das es vorher so noch nicht gab. Wir sind Pioniere und das ist ein Privileg.», erklärt Matthias Kallen.
Steuerberater Rocco Selladurai ist es gewohnt, bei der Arbeit sein Gesicht zu zeigen.
Das sagt auch Rocco Selladurai, welcher direkt betroffen ist: «Natürlich macht mich die neue Lösung stolz. Schliesslich haben wir etwas in Angriff genommen, das andere Verwaltungen noch nicht geschafft haben.»
Die Einsatzmöglichkeiten des Video-Chats stehen erst ganz am Anfang: «Diese müssen sich in den Köpfen der Berater aber auch der Kunden erst entwickeln», so Kallen. Seit Kurzem bietet Winterthur ein Dienstleistungs-Zentrum für Grundstückgewinnsteuer an. Das heisst, sie bieten zürcherischen Gemeinden an, ihre Grundsteuerfälle zu erledigen. «So wäre es vielleicht eines Tages möglich, dass Bewohner einer entlegenen Gemeinde uns per Videochat kontaktieren, statt nach Winterthur zu reisen», so Kallen.
Auffallend ist, dass der Text-Chat viel häufiger genutzt wird als der Video-Kanal und zwar im Verhältnis 85 zu 15 Prozent. Die eher zurückhaltende Kultur der Schweizer könnte eine Erklärung dafür sein, meint Kallen. Für die Berater ist das Texten zeitaufwändiger, als der Videochat. Gründe, wieso dieser Kanal vermehrt genutzt wird, könnten sein: Nicht jeder hat eine Webcam oder diese funktioniert nicht einwandfrei, andere möchten sich nicht zeigen, oder man ist unterwegs und möchte die Anfrage stellen, ohne dass jeder das mitbekommt. «Per Textchat können Steuerpflichtige beispielsweise auch im Zug ihre Steueranliegen anonym erledigen und das ohne Zeitverzögerung», erklärt Rocco Selladurai. Und: «Wir hatten bisher niemanden, der über den Kanal Unfug getrieben hat».
Wen spricht das neue Angebot an? Vielbeschäftigte, die nicht persönlich vorbeikommen können, Steuerpflichtige, die sofort eine Antwort auf ihre Fragen brauchen aber nicht telefonieren können, Menschen, die im Ausland leben und telefonieren schwierig und teuer ist oder wenn man in einer lauten Umgebung ist.
Noch ist der Kanal zu wenig bekannt: «Es bringt nichts, wenn wir etwas anbieten, das niemand nutzt. Es ist schliesslich ein Dienst an der Bevölkerung», so Rocco Selladurai. Über den Online-Kanal kommen aktuell eine gute Handvoll Anfragen täglich, diese sind ähnliche wie per Telefon, kommen also aus allen Steuerbereichen. «Doch es ist anders als am Schalter, die nonverbalen Signale fallen beim Text-Chat zum Beispiel weg», so Rocco Selladurai.
Die Kunden, die den Kanal bisher nutzten, waren sehr dankbar: «Praktisch von jedem Kunden kam am Schluss des Gesprächs eine sehr positive Reaktion - und zwar ohne Nachfrage», sagt Rocco Selladurai stolz.
Die Pilotphase Online-Schalter läuft noch bis Ende Mai 2019. Danach entscheidet die Stadt Winterthur, ob sie weiter einen Text- und Videochat anbietet.
Die Video Consulting Solution wird in der Schweiz einzig von Swisscom als Komplettlösung angeboten und diese lässt sich geräteunabhängig nutzen. Dejan Mastrapovic, Head of CIM Video Solutions bei Swisscom, unterstreicht die zunehmende Bedeutung der Videoberatung im Verwaltungs-Sektor: «Der Online Live-Chat ist mittlerweile eine echte Alternative zu klassischer Vor-Ort-Beratung geworden. Der Kunde wird wieder König und entscheidet selbst, welchen Interaktionskanal zu welchem Zeitpunkt für ihn der Beste ist. »
Das Steueramt Winterthur betreut mit 60 Stelleneinheiten und 5 Lernenden beinahe 70'000 natürliche, über 4'000 juristische und circa 10'000 quellensteuerpflichtige Personen.
Die Informatikdienste der Stadtverwaltung Winterthur (IDW) sind für die gesamte ICT-Infrastruktur aller 60 Ämter und Betriebe der Stadtverwaltung zuständig.