Die Zukunft wird besser, als wir denken, behauptet Futurologe Gerd Leonhard. Den digitalen Wandel zu steuern, hat Mensch letztlich in den eigenen Händen – allerdings sollte er sich klar darüber werden, was er der Technologie abtritt und was in seiner Macht bleiben soll. Begegnung mit einem, der sich mehr als Zukunfts-Therapeut sieht denn als Prophet.
Auf die Plätze, fertig, los! Die Zukunft fängt an, bevor der Wecker klingelt. Und wer nicht auf Zack ist, der hat sie schon verschlafen, die Zukunft, die höhnisch die Zähne bleckt und unablässig «digital» zischt. Kein Wunder, wird dem Einen oder Anderen flau im Magen ob der Aussicht auf ein Leben auf der Standspur – schlimmer noch: auf ein Überleben auf dem Pannenstreifen.
Die Sache mit der Angst
Gerd Leonhard ist ausgeschlafen, ist hellwach. Und, zumindest beruflich, auf der Überholspur unterwegs. Seine Meinung zur industriellen Revolution 4.0, zum digitalen Wandel also, ist gefragt. Bei Managern, Medien und Machern rund um den Erdball. Täglich ordnet er ein, wie die Errungenschaften der Technologie sich auf unser Leben auswirken werden.
Herr Leonhard, macht Ihnen die Zukunft Angst?
«Mir persönlich nicht, nein. Ich bin Optimist. Aber natürlich, ich weiss, dass nicht alle meine Zuversicht teilen können und die Zukunftsangst da draussen in der realen Welt ein Riesenthema ist. Automation und Digitalisierung haben in den letzten zwei Jahren dazu geführt, dass viele Menschen denken: Das mit der Zukunft, das kommt nicht gut, die Zukunft, die wird fürchterlich!»
Leonhard, in Bonn geboren, später in den USA als Jazz-Musiker und in Internet-Start-ups tätig, ist Futurologe und Humanist. Kein Wissenschaftler vom Kaliber eines Albert Einsteins, wie er selber lachend festhält, eher einer aus der Liga Jimi Hendrix’. Ein begnadeter Könner in seiner Disziplin, der darob die Elemente guter Unterhaltung nicht vergisst.
Die Digitalisierungspredigt
Schwarz das Hemd, schwarz die Schuhe, schwarz die Hose, schwarz das Jackett, steht der 58-Jährige an diesem Nachmittag auf Einladung von Swisscom im World Trade Center in Zürich Oerlikon und spricht vor 400 Fachleuten aus der IT-Branche zum Thema IoT – dem Internet der Dinge.
Er schreitet vom linken Bühnenrand zum rechten, dann wieder vom rechten zum linken, so, wie wir das von den Keynotes von Tim Cook und den anderen Tech-Gurus kennen, er zaubert Bilder und Botschaften auf den Screen und sagt dazu Sätze wie «Artificial Intelligence ist ein fantastisches Werkzeug, aber auch ein schrecklicher Herrscher» oder «unsere Gesellschaft wird sich in den nächsten 20 Jahren mehr verändern, als sie dies in den letzten 300 Jahren getan hat» oder «wir müssen uns entscheiden zwischen Himmel und Hölle».
Gerd Leonhard, einst Student der Theologie, beschreibt einerseits die unausweichliche und exponentielle Digitalisierung. «Daten sind das neue Öl. Künstliche Intelligenz ist der neue Strom. Und IoT ist das neue Nervensystem». Andererseits fungiert der Förstersohn, der in den Wald ruft, was andere hören oder manchmal auch lieber nicht hören wollen, als dezidierter Warner. Die totale Transformation sei unvermeidbar, soviel stehe fest. Die Technologie aber, so fordert Leonhard, sie habe für nichts anderes da zu sein als für des Menschen Glückseligkeit.
Herr Leonhard, ist der digitale Wandel ein Wandel hin zum Guten?
«Grundsätzlich schon. Das Problem mit der Digitalisierung aber ist, dass wir es häufig übertreiben. Wenn Facebook beispielsweise plant, die Internet-Konnektivität auf dem afrikanischen Kontinent mithilfe von Drohnen auszubauen, so ist dagegen erstmal nichts einzuwenden. Bloss können Sie sicher sein, dass das Ganze letztlich eher für die Überwachung der Menschen genutzt wird als für die Anbindung von abgelegenen Regionen ans Internet.»
Solche Fehlentwicklungen seien es, die die grundlegend positive Idee der Digitalisierung kaputt machen würden, ist sich Leonhard sicher. Der Technologie allein die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, das würde dann aber doch zu kurz greifen. Er zieht ein einfaches Beispiel heran: «Es ist wie beim Hammer, mit dem man Nägel, gleichzeitig aber auch Köpfe einschlagen kann: Dem Hammer ist es letztlich egal, was der Mensch mit ihm anstellt. Er unterscheidet genauso wenig zwischen Gut und Böse wie die Technologie per se korrupt wäre.»
Der Mensch denkt – und lenkt
Wenn jemand korrupt ist, dann ist es der Mensch. Und hier ortet Gerd Leonhard die grösste Schwachstelle im Zuge des digitalen Wandels. Solange das gesellschaftliche System darauf beruhe, dass das finanzielle Einkommen als Benchmark menschlichen Daseins am meisten Gewicht habe, so lange gebe es Leute, welche die technologischen Errungenschaften für ihre eigenen Zwecke nutzen und missbrauchen würden. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens sieht er nach wie vor als möglichen Sockel einer wegweisenden, neuen Gesellschafts- und Arbeitsstruktur. Er wirft die Stirn in Falten. Viele prominente Internet-Unternehmen hätten sich einst bei ihrer Gründung dem Kodex «don’t be evil» verpflichtet – und heute seien sie genau das Gegenteil, seien sie «evil», böse und korrupt. Nicht, weil sie es absichtlich hätten werden wollen. Sondern weil da einfach zu viel Geld war, das man mit den Daten habe verdienen können.
Herr Leonhard, wie oft sind Sie persönlich schon «evil» geworden?
«Die Versuchung, respektive die Angebote, sie sind da. Zum Glück bin ich unabhängig und in der Lage, Anfragen ablehnen zu können. Es gibt Unternehmen und Organisationen, die können mir noch so viel Geld für meine Dienste anbieten – denen stelle ich mein Wissen aus Prinzip nicht zur Verfügung.»
Moral, Verpflichtung, Sinnhaftigkeit – das sind die aktuellen Schlagworte im Zuge der digitalen Transformation. «2019 ist das Jahr der digitalen Ethik», verkündet Gerd Leonhard vorne am Bühnenrand, während auf dem Screen in seinem Rücken zwei Roboter-Greifer ein Herz formen. Es ist das Titelbild seines aktuellen Buches, das den Titel «Technology vs. Humanity» trägt – eine bewusste Provokation, wie der Redner festhält. Denn eigentlich gehe es ihm nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Sondern vielmehr darum, den Handshake zwischen Mensch und Maschine zu fördern. Der Benefit, den der Mensch aus der Technologie ziehen könnte, sei in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht gigantisch. Was wir uns aber endlich bewusst werden müssten, sei die Art und Weise, wie wir mit diesen technologischen Möglichkeiten heute und in Zukunft umgehen wollen. «Wir brauchen einen grundlegenden Systemwechsel, besser heute als morgen.»
Wir brauchen eine «Mission Control»
Die grosse Frage: Was soll die Technik übernehmen, was soll in den Händen des Menschen bleiben? Maschinen und Algorithmen können uns letztlich von ungeliebter Arbeit befreien. Doch wer entscheidet, wo, wie, und was in diese Kategorie fällt – etwa ein Algorithmus? Leonhard hält es dahingehend mit Kevin Kelly, dem Mitbegründer der Technik-Zeitschrift «Wired». Er den einprägsamen Grundsatz in die Welt gesetzt, wonach Computer für die Antworten da sind, der Mensch hingegen für die Fragen.
Herr Leonhard, was, wenn die Maschinen sich ihren Fragenkatalog eines Tages gleich selbst zusammenstellen?
«Autonome Intelligenz ist sicherlich nicht erstrebenswert. Grundsätzlich will uns die künstliche Intelligenz ja nichts Böses – ausser der Mensch programmiert sie so. Deshalb brauchen wir so etwas wie eine ‹Mission Control for Humanity›, die dafür sorgt, dass Mensch und Technologie in Balance bleiben. Bloss: Wer soll das sein? Wer sorgt als unabhängige Kraft für die Sicherheit der Daten im Zeitalter der intelligenten Maschinen? Für die Privatsphäre? Momentan befinden sich die Hebel in den Händen des Silicon Valley. Und das kann nicht sein. Gefordert sind die Politik, aber auch die grossen Unternehmen.»
Während Leonhard bei den Unternehmen hier und dort eine gewisse Bewegung hin zur Wahrung der menschlichen Interessen und der «Humanity» feststellt, etwa in Form von neu installierten «Ethics Officers». Sie gehen der Frage nach, welche Prozesse automatisiert werden können und was damit bei den Mitarbeitenden und in der Gesellschaft ausgelöst wird – also jemand, der über den Tellerrand hinausdenkt. Dagegen wähnt Leonhard die Politiker im Stillstand. «Wir bräuchten eigentlich einen europäischen Digital Ethics Council, in dem parteiübergreifend Wissenschaftler, Philosophen, Denker und Künstler sitzen. Quasi einen Rat der Weisen, ein Ältestenrat, der die Leitplanken für ein zukunftsorientiertes Handeln festlegt und der Politik die Richtung weist.»
Mensch, besinn dich auf deine Stärken
Immer wieder an diesem Nachmittag spricht Leonhard über die Rolle des Menschen im technologischen Zeitalter. Zwar sei der – also wir – mehrheitlich ineffizient, langsam und teuer (eben genau das Gegenteil einer Maschine). Jedoch verfügten wir Menschen anders als die Technologie über Innovationskraft, Kreativität, kritisches Denken und die Fähigkeit, zu zweifeln. Das gelte es zu nutzen. «Effizienz ist nicht alles. Und die Weisheit, sie liegt nach wie vor beim Menschen. Computer können nicht weise sein, sie projizieren nur aus Fakten heraus.» Er zeigt ein Bild, darauf zu sehen sind eine Zielscheibe und viele Pfeile, die ihr Ziel verfehlen. «Was neben diesen klar definierten Fakten liegt, das sieht die Maschine nicht, das ist viel zu diffus.»
Herr Leonhard, was geben Sie den Menschen mit auf den Weg, die denken, das mit der Zukunft, das kommt nicht gut, die Zukunft, die wird fürchterlich?
«Denen, die sich nicht so intensiv mit der Technologisierung befassen, rate ich, den Angstknopf ein wenig herunterzudrehen. Das Leben wird sich in den nächsten Jahren enorm transformieren. Danach jedoch stellt sich eine gewisse ‹Rehumanisierung› ein: Wir werden hypereffizient sein und total vernetzt – verfügen aber gleichzeitig über mehr Zeit für zwischenmenschliche, soziale Aktionen. Ich sage: Die Zukunft wird viel besser werden, als wir es uns heute vorstellen können.»
Die Fakten der Maschine, die Weisheit dem Menschen
Im Auditorium machen sich abwechslungsweise Faszination und Unbehagen breit ob den Vorhersagen Leonhards. Schnell noch werden die aufgestellten Thesen mit dem Smartphone vom riesigen Screen abfotografiert und mit der Aussenwelt geteilt. Die Zukunft, die Leonhard in seinem 45-minütigen Vortrag zeichnet, sie wird zu 90 Prozent gut. Und die übrigen zehn Prozent nicht so gut.
Herr Leonhard, wieso sollen Ihnen die Menschen glauben?
«Weil das, was ich sage, die Leute eigentlich schon lange wissen. Sie haben sich bis jetzt einfach nicht unbedingt damit befassen wollen. Es ist, als wenn Sie zu einem Therapeuten gehen und der sagt, dass Sie Ihre Frau nicht gut behandeln und ihr Verhalten deshalb grundlegend ändern sollten. Eigentlich sind Sie sich dessen schon lange bewusst – aber erst jetzt, da jemand das Thema plastisch auf den Tisch bringt, merken Sie: Aha, es ist wirklich an der Zeit, die Sache aktiv anzugehen.»
Schlussapplaus. Dankesworte. Das Dunkel des Raumes weicht dem grellen Neonlicht. Gerd Leonhard nestelt sich sein Headset vom Hals, öffnet den obersten Knopf seines Hemdes und beantwortet zwischen den sich lichtenden Stuhlreihen die Fragen von Enthusiasten und Skeptikern. Ja, er gehe durchaus einig mit einer Studie, die lediglich 5 Prozent aller Jobs von der totalen Automatisierung betroffen sieht; nein, die Politik sei weit entfernt von einem Paradigmenwechsel, der in Richtung einer smarten Zukunft weist; ja, auch in Zukunft würden sich Futurologe und Journalist gegenübersitzen. Denn Fakten seien das Eine, damit könne man auch Maschinen füttern.
«Letztendlich», sagt Gerd Leonhard und packt seine Taschen, «letztendlich geht es aber darum, diese Fakten nicht nur zu projizieren, sondern sie zu verstehen. Es geht um Intuition und nicht ausgesprochene Informationen. Im weitesten Sinne geht es in Zukunft um das, was den Menschen seit jeher ausmacht: Es geht um Weisheit.»
Dann blickt er auf die Uhr. Auf die Plätze, fertig, los: Zack. Die Zukunft hat ihn wieder mal eingeholt. Zuhause wartet bereits das Abendessen.
Das ganze Referat von Gerd Leonhard als Video
Der Futurologe und die Schweiz
Gerd Leonhard lebt seit 15 Jahren in der Schweiz. Seine Wahlheimat sei eine wunderschöne Insel, sagt der in Zürich wohnhafte Deutsche. Die Natur und die Sicherheit haben es ihm angetan, aber auch ein gewisser «Ehrenkodex», der im kollektiven Denken und im wohltarierten Zusammenwirken gründe. «Das ist zwar alles ein bisschen altmodisch, aber es ermöglicht einem ein sehr gutes Leben im Herzen Europas.»
Vor diesem Hintergrund sieht Gerd Leonhard in den nächsten Jahren grosse Herausforderungen auf die Schweiz zukommen. Zu lange habe man in Sachen digitaler Wandel abseits gestanden und gedacht, «das geht uns nichts an, wir warten jetzt einfach mal ab». Dabei, so Leonhard, besitze die Schweiz alles, was es braucht, um eine führende Rolle einzunehmen: Weltweit anerkannte Hochschulen, smarte Entrepreneurs, erfolgreiche Start-ups und Unternehmen.
Die Schweiz könnte in sich eine einzige Smart-City bilden, ist der 58-Jährige überzeugt. «Und die Schweiz könnte der Datenspeicher der Welt sein.» Sie sei sicher, nicht korrupt und habe in den letzten hundert Jahren mit ihrem Bankenwesen gezeigt, wie man mit sensiblem Gut umgeht. «Die Leute würden endlos dafür bezahlen, wenn sie ihre Daten in der Schweiz speichern könnten und dies nicht im Silicon Valley tun müssten.»