Der Fachkräftemangel fordert von Schweizer Firmen ganz neue Ansätze. Work-Life-Balance, vielfältige Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt ein moderner Arbeitsplatz sind heute Minimalanforderungen.
Im Sommer 2022 wurde in der Schweiz eine psychologisch wichtige Marke überschritten: Die Zahl der offenen Stellen lag erstmals über 100’000. 114’000 Arbeitsstellen konnte die Schweizer Wirtschaft im Juli 2022 nicht besetzen, um genau zu sein. Der Kampf um fehlende Fachkräfte hat sich damit in den letzten Monaten noch einmal deutlich zugespitzt.
Nicht alle Branchen sind gleich stark betroffen und es ist im Moment noch schwierig zu beurteilen, wie sich die Covid-Pandemie längerfristig auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Klar ist aber, dass sich insbesondere handwerklich orientierte Branchen warm anziehen müssen. Ebenso schwierig wie Handwerker sind Ingenieure, Pflegefachkräfte oder IT-Fachleute zu finden, wie der Fachkräftemangel-Index 2021 der Adecco Schweiz zeigt.
Wer ersetzt die Babyboomer?
Die Gründe für den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften sind recht schnell ausgemacht: Einerseits befindet sich die Schweiz mitten in einem dramatischen demographischen Wandel: Die Babyboomer – also die Nachkriegsgeneration – werden pensioniert. Man rechnet mit rund 800’000 Menschen, die in den nächsten 10 Jahren in Pension gehen. Es fehlen Hunderttausende, um diese Abgänge zu ersetzen. Andererseits tritt heute eine Generation in den Arbeitsmarkt ein, die selbstbewusst mehr Teilzeitarbeit und grössere Flexibilität fordert und auf eine gesunde Work-Life-Balance setzt.
Die Frage stellt sich für viele Firmen, wie sie offene Stellen überhaupt noch besetzen können. Und genau so wichtig: wie sie ihre Angestellten halten sollen. Rund die Hälfte der Angestellten spielen mit dem Gedanken, ihre Stelle zu wechseln. Seit Beginn der Pandemie haben dies nicht weniger als 25 Prozent tatsächlich getan. Lucas Zehnder, Headhunter und Consultant bei Rockstar Recruiting lebt von diesem Drang zum Wechsel. Doch er relativiert: «Die Themen, die heutige Stellensuchende umtreiben, sind keinesfalls neu: Kollegiales Umfeld und eine positive, gesunde Firmenkultur stehen zuoberst auf der Forderungsliste. Das war übrigens schon vor der grossflächigen Digitalisierung genau gleich,» betont Zehnder.
Frauenförderung und Weiterbildung
Patrick Minder, Head of Platforms & Applications bei Swisscom, sieht das als Chef von rund 1000 IT-Profis ähnlich. «Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Leute zu halten.» Minder zählt auf, was in seinen Augen besonders ins Gewicht fällt: «Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist gerade für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen von entscheidender Bedeutung. Wir als Unternehmen müssen die dazu passenden Rahmenbedingungen schaffen.» Ein wichtiger Teil davon: Ein moderner Arbeitsplatz mit der Möglichkeit zu Remote Work und der reibungslosen Kommunikation auf unterschiedlichen Kanälen. Ebenso wichtig ist in Minders Augen das Weiterbildungsangebot der Swisscom: «Meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten in einem Umfeld, das sich sehr stark verändert. Es fragen sich auch 50-jährige, was sie in 5 oder 10 Jahren tun werden und ob ihr Know-How dann noch ausreicht. Entsprechend gross sind unsere Anstrengungen, diese Leute auf dem neusten Stand zu halten.».
Der Lohn ist nicht das Wichtigste
Das zahlt sich aus: Die Fluktuation in Patrick Minders Abteilung liegt bei unter 10 Prozent. «Normal sind in unserer Branche bis 20 Prozent.» Denn gerade in der IT-Branche werden schon für Lehrabgänger gern mal sechsstellige Jahressaläre bezahlt – meist von internationalen Grossunternehmen. Entsprechend sehen weder Patrick Minder noch Lucas Zehnder ein Schweizer KMU in der Lage, diesen finanziellen Wettbewerb mitzugehen. Zehnder betont, gerade in den hart umkämpften Berufsfeldern gehe es in erster Linie um die Pflege der Community: «Ich mache eigentlich den ganzen Tag nichts anderes.» Stimme das Zwischenmenschliche, dann sei der finanzielle Aspekt oft zweitrangig. Das zeigen diverse Umfragen zur Job-Zufriedenheit: Geld ist für viele Angestellte in der Schweiz nicht die Hauptmotivation. Zehnder betont, dies sei völlig unabhängig vom Alter der Befragten. Die jüngere Generation trägt ihre Forderungen insbesondere nach Teilzeitarbeit, sinnvoller Arbeit und einer hohen Lebensqualität laut und selbstbewusst vor.
Ein moderner Arbeitsplatz ist Pflicht
«Jüngere Jobsuchende haben klare Vorstellungen davon, wie ihr Arbeitsplatz heute auszusehen hat. Kann ein Arbeitgeber diese Ansprüche nicht erfüllen, hat er beim Recruiting schlechte Karten,» so Zehnder. Wurde vor 10 Jahren noch befürchtet, dass die Digitalisierung Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet, hat sich der Schauplatz der Diskussion heute komplett verlagert. «Die Digitalisierung sorgt dafür, dass ich weniger langweilige Arbeiten tun muss und mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren kann,» betont Zehnder. Mangelhaft digitalisierte Prozesse, eine veraltete IT-Infrastruktur und fehlende Möglichkeiten zur ortsunabhängigen Arbeit sind nicht nur Effizienzkiller, sondern schrecken auch neue Talente ab. «Bewerbende haben sehr wenig Geduld mit veralteten IT-Arbeitsplätzen. Hier ist die eigene Infrastruktur oft das Mass der Dinge. Diese ermöglichen dann auch die Flexibilität bezüglich Ort und Zeit, die gefordert wird,» beobachtet auch Patrick Minder.
Umdenken bei älteren Mitarbeitenden
Zum Schluss betonen beide, dass der Kampf um die jüngeren Talente nur ein Teil des Problems beheben kann. Denn die Tatsache bleibt, dass die Babyboomer in Pension gehen und eine empfindliche Lücke hinterlassen werden. Darum, so Minder, müsse man zwingend den Umgang mit den Pensionären überdenken: «Viele sind durchaus bereit, auch nach dem 65. Geburtstag zu arbeiten. Allerdings nicht mehr zu denselben Bedingungen.» Das erfordere aber eine hohe Flexibilität von allen Seiten. Das Salärsystem müsse neu gedacht werden, ebenso der Umgang mit Verantwortung und die Arbeitsaufteilung. Aber es lohnt sich, ist Minder überzeugt: «Wenn wir die Älteren mithilfe neuer Modelle davon überzeugen können, noch einige Jahre anzuhängen, gewinnen alle. Und warum sollten wir leichtfertig auf die Erfahrung dieser Menschen verzichten?»
Tipps gegen den Fachkräftemangel
- Weiterbildung: Investieren Sie vor allem in die vorhandenen Arbeitskräfte und nicht nur ins Recruiting.
- Arbeitsklima: Pflegen Sie das Zwischenmenschliche. Menschen arbeiten nicht nur für Geld, sie wollen auch Respekt, Freiheit und Wertschätzung.
- Moderne Arbeitsumgebung: Investieren Sie in moderne Infrastruktur. Andernfalls haben Sie weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Automatisieren Sie anspruchslose Arbeiten.
- Flexible Arbeitsmodelle: Die Generation Z hat zum Teil ganz andere Ansprüche als die Babyboomer. Zeigen Sie die nötige Flexibilität – die neuen Technologien vereinfachen dies.
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Man wird nicht als Fachkraft geboren. Die Zeitspanne vom allerersten Tag im Kindergarten bis zum aller letzten Tag an der Hochschule ist ein sehr harter Lebensabschnitt. Permanente Schulleistung und ununterbrochenes Lerndurchhaltevermögen sind nicht selbstverständlich. Und man kann nicht immer nur geben, ohne auch dafür etwas zu nehmen.