Agile Software-Entwicklung bei Swisscom
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Wenn alle unternehmerisch denken und handeln

Im agilen Setup ändert sich für Unternehmen einiges. Wann ist es dem Kunden zuzumuten, ein Produkt erstmals zu testen? Wie soll eine Diskussionskultur aussehen? Wer führt, wenn es kaum mehr Manager gibt? Was es bedeutet, grosse Projekte agil zu entwickeln weiss Jens Wilhelms, agile Coach von Swisscom.

Jens Wilhelms erinnert sich noch gut an die grosse Anspannung, bevor wichtige IT-Projekte früher «gelauncht» wurden. Wenn nach zwei Jahren Arbeit alles live geht, und man weiss, dass einiges schiefgehen wird. Das Resultat erreichte selten alle Ziele, war meist später fertig als geplant und teurer als gedacht. Nach langen zwei Jahren ist das Ergebnis also nicht immer berauschend – weder für die Entwickler noch für den Kunden.

Das ist Vergangenheit. Jens Wilhelms leitet den Bereich Development Foundation bei Swisscom und ist mit seinem Team von Agile Coaches unter anderem dafür verantwortlich, dass agile Zusammenarbeitsstrukturen zum Fliegen kommen. Aktuell will die Swisscom ein durchgängiges Kundenerlebnis über alle Kanäle entwickeln. Ein Monsterprojekt aus Sicht von Business und der IT, das auch mit Risiko verbunden ist. Darum soll das Projekt im agilen Setup umgesetzt werden. Dazu gehört, konsequent die Kundenbedürfnisse in den Vordergrund zu stellen und wegzukommen vom rein technischen Fokus.

Jens Wilhelms, Head of Development Foundations, Swisscom
Jens Wilhelms, Head of Development Foundations, Swisscom.

«Wir brauchen agile Teams, die autonom und kontinuierlich Kundennutzen liefern», sagt dazu Jens Wilhelms. Im agilen Modus gibt es regelmässig eine interaktive Systemdemo mit dem Kunden, damit dessen Feedback eingeholt werden kann. Nach einer ersten Phase bekommt der Kunde bereits ein «Minimal Viable Product», ein Arbeitsergebnis, das zwar noch nicht alle Features beinhaltet, jedoch bereits nutzbar ist und einen Mehrwert bringt. Hier muss sich das Entwicklerteam immer die Frage stellen: Wann ist es dem Kunden zuzumuten, das Produkt erstmals zu testen?

Software eats the world

Die Softwareentwicklung setzt schon seit Jahren auf agile Arbeitsmethoden und Organisationsformen. Sie sind eine mögliche Antwort auf schnelle Marktveränderungen und wandelnde Kundenbedürfnisse, steigende Komplexität und Nicht-Vorhersehbarkeit. ​ Swisscom hat Anfang 2016 einen Teil des Bereichs IT, Network & Infrastructure darauf ausgerichtet und sich in Squads (autonome Teams) und Tribes (Gruppe von Squads mit ähnlichen Zielen) aufgestellt.

Als Vorlage diente zu Beginn unter anderem der schwedische Musik-Streaming-Dienst Spotify, der auch dank seiner agilen Arbeitsmethoden eines der erfolgreichsten Unternehmen in der Branche wurde.

Squads sind Gruppen von höchstens zehn Personen, die als funktionsübergreifende und selbstorganisierte Einheit weitgehende Autonomie haben. Jede Squad hat von Anfang bis Ende die Verantwortung für das, was sie tut – vom Design über die Entwicklung bis zum Betrieb. Jeder Einzelne soll unternehmerisch denken und handeln. Gelebt wird eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Der Job von Jens Wilhelms ist es, möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen, die es seiner Abteilung ermöglicht, erfolgreich agil zu arbeiten – zum Beispiel durch die Bereitstellung der passenden Tools.

Agilität als Kernkompetenz

Bei Swisscom gab es ab 2012 die ersten agilen Grossvorhaben. Swisscom TV 2.0, später die Produktepalette inOne oder die Enterprise Cloud wurden bereits so entwickelt. Dabei ist Swisscom kein klassischer Softwareentwickler. Die Telekombranche war jedoch schon früh von der Digitalisierung betroffen. Und diese eröffnen Möglichkeiten für neue Marktchancen. «Damit wir jedoch erfolgreich sind, müssen wir unsere Arbeitsweise auf Agilität trimmen und die Möglichkeiten des modernen Software Engineerings besser nutzen», meint Jens Wilhelms dazu.

Vielen Industrien steht dieser Umbruch in den nächsten Jahren noch bevor. Jens Wilhelms ist überzeugt, dass Agilität eine Kernkompetenz in der immer schneller drehenden Digitalisierung für alle Unternehmen werden muss. «Wer auf dem Feld nicht mitspielen kann, könnte irgendwann verlieren», sagt er.  Und «der Kunde erwartet heute auch, dass ein Produkt lebt und sich weiterentwickelt, dass immer wieder etwas Frisches kommt». Die aktuelle Entwicklung in der Abteilung IT, Network & Infrastructure zielt darauf ab, die etablierte agile Arbeitsweise der Softwareentwicklung auf die ganze Liefer- und Wertschöpfungskette eines Produkts oder Services auszudehnen.

Gemeinsame agile Werte und häufige Diskussionen

Bei IT, Network & Infrastructure arbeiten alle nach agilen Werten. Einer dieser Werte lautet: Wir fällen objektive Entscheide. Oder: Wir helfen, das Potential in jedem Einzelnen zu entfalten. Wir fokussieren zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt auf Qualität mit stetiger Verbesserung.

Das ist alles nur möglich, wenn ein ständiger Austausch zwischen den Mitarbeitern passiert. Deshalb finden täglich kurze Stand-up Meetings statt und jeder spricht offen über den Stand der eigenen Arbeit und über Hindernisse. In diesen Diskussionen gibt es keine Hierarchien. Verschiedene Sichtweisen und Argumente sind bereichernd und führen zu einem Konsens, der alle überzeugt. Ohne dass es einen Chef brauche, der entscheide, so Jens Wilhelms.

Start mit wenigen Leuten

Die Abteilung startete 2016 mit vier Tribes. Es wurden Teams ausgewählt und weiterentwickelt, die bereits agile Erfahrungen gemacht hatten. Zusätzlich kamen Teams zum Zug, bei denen das Bedürfnis bestand, schneller und effizienter zu werden. Sie bildeten einen Inkubator für die Organisation, von dem die andern lernen konnten. «Zudem liess sich so das Risiko besser steuern, weil sich die anderen 90 Prozent der Organisation noch nicht so stark veränderten», sagt Jens Wilhelms. «Und ich bin überzeugt, das hat uns auch das Vertrauen des Managements eingebracht.»

Knapp 50 Prozent der IT-Entwicklung bei Swisscom sind inzwischen auf agil umgestellt. Nach beinahe zwei Jahren ist Jens Wilhelms ist noch immer überzeugt, dass Autonomie motiviert und die Teams deshalb bessere Software bauen.

Entwickler wählen Werkzeuge selbst

Agile Vorgehensweisen benötigen eine umfangreiche technische Unterstützung in Form passender Software-Werkzeuge. Erst dadurch werden beispielsweise Prototyping, Software-Testing, Integration und Rollout automatisierbar und beschleunigt. Bei IT, Network & Infrastructure sind im Software Engineering viele verschiedene Tools im Einsatz, um Geschwindigkeit, Effizienz und Qualität zu steigern. Diese Tools werden aber nicht «Top Down» eingeführt, sondern richten sich nach den Bedürfnissen der Teams, sagt Jens Wilhelms: «In der Community kristallisiert sich heraus, welches die besten Tools sind. Diese stellen wir dann als Service zur Verfügung. Ein darwinistisches Prinzip: Die, die am meisten überzeugen, werden weitergezogen. So ergibt sich ein akzeptierter und wirkungsvoller Standard.»

Die agile Arbeitsweise hat dazu geführt, dass von jährlich drei bis vier Releases zu monatlichen Releases übergegangen werden konnte. «Die Durchlaufzeit zur Umsetzung eines Business-Vorhabens konnten wir von etwa 12 Monaten auf fünf bis sechs Monate reduzieren. An manchen Stellen reichen auch wenige Wochen», resümiert Jens Wilhelms. Und Releasing solle immer mehr zum «Non-Event» werden, «das heisst ohne Drama und Brimborium.»

Limitiertes Management

In der agilen Organisationsform soll der Management-Anteil unter den Mitarbeitern auf fünf Prozent beschränkt werden. Jens Wilhelms und das Leadership-Team haben mit jedem einzelnen Mitarbeiter angeschaut, was der richtige Job im neuen Kontext ist. «Bei einigen kam es vor, dass sie zwar die formelle Führung verloren, aber dann einen viel passenderen Job bekommen haben und nun viel zufriedener sind», sagt Jens Wilhelms. Sein Fazit: Die Motivation ist eher gestiegen. Trotzdem war es in einigen Fällen schwierig, nicht alle konnten diesen Weg akzeptieren.

Im Online-Kundenerlebnis sind die kompletten Prozesse organisationsübergreifend in der agilen Struktur aufgesetzt. Ende letzten Jahres fanden die ersten Kickoffs statt. Statt in zwei Jahren werden die Kunden jedoch bereits viel früher erste Verbesserungen im Online-Erlebnis spüren.

 

Titelbild: Strandperle

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