Agiles Arbeiten im Unternehmen verändert auch die Menschen
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Wenn der Hilfsarbeiter zum Chef aufsteigt

Agiles Arbeiten soll Prozesse verschlanken, effizienter und schneller machen. Doch Agilität ist mehr als das: Es verändert die Menschen. Mit ungeahnten Folgen.

«Seit Martin agil arbeitet, hat sich sogar in unserer Familie einiges verändert», erzählt Marilli Eisenhut. «Wir gehen zum Beispiel anders mit unseren Kindern um. Wir hören zu und nehmen sie ernst.» Die Kinder von Martin und Marilli sind zwei und vier. Ein Alter, in dem viele Eltern ihre Kinder nicht wirklich ernst nehmen.

Agilität verändert auch das Privatleben.
Marilli und Martin Eisenhut: «Wir hören unseren Kindern besser zu.»

Martin Eisenhut arbeitet bei Transa in Zürich. Der Outdoor-Spezialist ist einer der ersten – wenn nicht der erste – Detailhändler der Schweiz, der agiles Arbeiten einführt. Vorerst im Backoffice, später auch an der Verkaufsfront. Martin ist in der Projektgruppe, die die neuen Methoden umsetzen soll. Er staunt, was sich verändert – nicht nur in den Prozessen, sondern vor allem bei den Menschen. «Wir kommunizieren heute bei Transa anders als früher», stellt er fest. «Heute klären wir zuerst, worüber wir eigentlich sprechen, bevor wir inhaltlich diskutieren.» Gerade in interdisziplinären Teams sind Wissen und Hintergrund oft sehr unterschiedlich. Das kann zu Konflikten führen, die früh entschärft werden sollten.

Spannungen und Entspannung

Was ist agiles Arbeiten?

Es gibt derzeit noch keine klare Definition der agilen Arbeit. Die Methode wird entsprechend von jedem Team und jeder Firma etwas unterschiedlich angewandt – was durchaus im Sinne dieser Arbeitsform ist. Grundsätzlich einig ist sich die Literatur aber über einige Eckpunkte, die agiles Arbeiten ausmacht. Flexibilität ist schon im Wort «agil» enthalten, Veränderung ist Teil der Firmenphilosophie. Ausserdem sollen Firmen schneller werden und eine entsprechende Dynamik entwickeln. Zentral für agiles Arbeiten sind die Punkte Vernetzung, Vertrauen und Selbstorganisation: Die Mitarbeitenden sollen befähigt werden, ihre Arbeit möglichst selbstständig zu erledigen und im sich im Team ohne hierarchische Eingriffe zu organisieren. Das braucht sehr viel Vertrauen vom Management und eine gut entwickelte Fehlerkultur.

Bei der Einführung von agiler Arbeit geht es bei weitem nicht nur um Prozesse, wie das Beispiel Transa zeigt, sondern vor allem um Kultur. Hierarchien werden in Frage gestellt, Kompetenzen tauchen an unerwarteten Stellen auf. «Wer agil arbeiten will, sollte sich bewusst sein, was für umfangreiche Folgen diese Umstellung haben kann», betont Jens Wilhelms, Head of Foundation Development bei Swisscom. Wilhelms betreut in dieser Funktion unter anderem das Coaching-Team, das interne Abteilungen unterstützt, die auf agile Arbeitsprozesse umstellen.

Gerade das Kader sei oft über die Veränderungen erstaunt. «Abteilungsleiter bis hin zu Mitglieder des Managements müssen akzeptieren, dass gewisse Dinge nicht mehr so gut vorhersehbar sind wie früher». Das bringe aber auch gerade für Leader-Figuren einen lebensverändernden – und unerwarteten – Mehrwert: «Die Verantwortung liegt sehr viel stärker beim Team. Ich erlebte das kürzlich selbst bei einem wichtigen Vorfall: Das Team übernahm selbstorganisiert und ganz automatisch die Verantwortung, und ich konnte getrost aus der Ferne zuschauen.». Eine Entwicklung also, die durchaus auch eine entspannende Wirkung auf den Chef oder die Chefin haben kann – bis hin zum Privatleben, wie Wilhelms betont.

Vom Lager in die Leitung: eine agile Karriere

Eine agile Organisation verändert Menschen – und Karrieren. Denn es zählt nicht mehr die hierarchische Stufe, sondern Wissen, Fähigkeiten und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Rohan Olagamage begann bei Transa als Aushilfskraft im Lager. Der 50-Pozent-Job ermöglichte ihm, sich in der restlichen Zeit seiner Leidenschaft zu widmen, der Musik.

Agiles Arbeiten: Eigene Fähigkeiten entdecken und einbringen
Rohan Olagamage gehört heute zum Leitungsteam der Buchhaltung.

Nach einer internen Reorganisation fand er sich in der Buchhaltungsabteilung wieder, wo er Tageseinnahmen verbuchte. Eine anspruchslose Arbeit. «Bei der Einführung eines neuen ERP konnte ich meine Erfahrungen aus meiner Zeit im Lager einbringen», erzählt er. Die Verantwortlichen bei Transa erkannten den Wert dieses abteilungsübergreifenden Wissens. Rohan wurde festes Mitglied der Projektgruppe und ist heute Teil des Leitungsteams Buchhaltung. «Ohne unsere agile Organisation wäre eine solche Karriere kaum denkbar gewesen», betont Martin Eisenhut.

Auch Rohan Olagamage ist von neuen Denkansatz überzeugt. «Ich greife oft auf Erfahrungen zurück, die ich in meiner Zeit als Lagerist gesammelt habe, und baue so eine Brücke zwischen den beiden Abteilungen», erklärt er. Seine Kolleginnen und Kollegen schätzten dieses Wissen sehr. Dass es von einem ehemaligen Aushilfslageristen kommt, spielt schlicht keine Rolle. Die agile Kultur fördert die respektvolle Sicht auf Kolleginnen und Kollegen.

Agilität bringt Mehrwert und birgt Risiken

Die Transa-Mitarbeiter rühmen den Mehrwert agiler Arbeitsformen, der sich jeden Tag aufs Neue zeige. Jens Wilhelms ist ein ebenso feuriger Anhänger der neuen Firmenkultur. Doch er kennt auch die Risiken, gerade bei der Umstellung: «Man sollte sich unbedingt darüber im Klaren sein, warum man eine Organisation verändern will. Einfach mal «agil» zu werden, reicht nicht», betont er nachdrücklich. Vertrauen und Motivation der Belegschaft – ein zentraler Bestandteil, wenn das Thema Agilität erfolgreich umgesetzt werden soll – sind bedeutend grösser, wenn sich alle im Klaren über das «Warum» sind.

Agilität und Privatleben: ein Austausch
Marilli und Martin Eisenhut: Inputs von der Arbeit ins Privatleben tragen – und umgekehrt.

Agilität beginnt bereits bei der Einführung. «Diesen Fehler macht man leicht: Man plant die Einführung akribisch und will die Schritte gemäss Projektplan umsetzen, im schlimmsten Fall über die Köpfe der Mitarbeitenden hinweg», so Wilhelms. Also genau das Gegenteil von agil. Die Mitwirkung der Betroffenen, Geduld bei der Umsetzung der einzelnen Schritte und nicht zuletzt die Fähigkeit, Fehler zuzulassen und zu korrigieren, sind zentrale Bestandteile bei der Einführung der neuen Prozesse. «Um die Unternehmenskultur zu verändern, braucht es viel Zeit und Geduld», betont der Agiliäts-Spezialist bei Swisscom.

Wer seine Firmenkultur so stark verändern will, sucht nicht nur den Mehrwert, sondern geht auch ein Risiko ein. Es gibt Menschen, die sich nicht auf neue Zusammenarbeitsformen einlassen wollen. Oder es gibt solche, die völlig neue Qualitäten bei sich selbst entdecken und diese vielleicht in einer anderen Firma zum Tragen bringen wollen.

Und nicht zuletzt gibt es Menschen, die Beruf und Privatleben strikt trennen wollen. Genau das ist mit agiler Arbeit fast nicht möglich. «Martin bringt viele der kulturellen Anstösse von der Arbeit mit in die Beziehung und die Familie», erzählt Marilli Eisenhut. «Aber ich nehme auch sehr viel von Zuhause wieder mit ins Geschäft», gibt Martin Eisenhut lachend zurück. Um sich dann gleich seinem Jüngsten zuzuwenden, der ihm ein selbst gemaltes Bild zeigen will. Respekt heisst auch, zuzuhören. Und wenn es der zweijährige Sohn ist.

Agiles Arbeiten bei Transa: Auswirkungen und Erfahrungen
Martin Eisenhut und Rohan Olagamage von Transa.

 

Fotos: Daniel Brühlmann

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