Hanspeter Groth, Experte für Manufacturing bei Swisscom
7 min

«Das Wichtigste bei der Shopfloor-Digitalisierung ist ein solides Grundkonzept»

Durch Digitalisierung lassen sich Produktionsprozesse vereinfachen, effizienter gestalten und vom Papierkrieg befreien. Hanspeter Groth, Industry Leader Manufacturing bei Swisscom, erklärt im Interview, wie Unternehmen ein Digitalisierungsprojekt im Shopfloor angehen können und welche Rolle die Entwicklung mit Low-Code dabei spielt.

Hanspeter Groth, was bedeutet Digitalisierung in der produzierenden Industrie?

Es gibt zwei Ebenen. Digitalisieren lässt sich erstens der horizontale Fertigungsprozess im Shopfloor vom Rohmaterial bis hin zum Endprodukt und Einsatz des Produkts beim Kunden. Dabei kommt es noch oft zu Medienbrüchen. Die Produktion selbst mag teilweise digitalisiert sein und ohne Papier auskommen. Sobald das Produkt den Shopfloor verlässt und ins Lager, zu einer weiteren Produktstufe oder zum Kunden transportiert wird, sind die Prozesse unvollständig digitalisiert. Dann muss doch wieder mit Papierdokumenten gearbeitet werden.

Und die zweite Ebene?

Hier geht es um die vertikale Integration vom Topfloor zum Shopfloor. Systeme im Topfloor wie ERP und PLM (Product Lifecycle Management) dienen der Planung – was soll wann produziert werden, welche Stückzahlen werden benötigt, woher stammen die Materialien und so weiter. Diese Daten müssen möglichst direkt nach «unten» zum Shopfloor gelangen, und auch dabei hapert es in vielen Industrieunternehmen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Produktionsmitarbeiter erhält Auftragsdaten aus dem ERP. Dann muss er allenfalls gewisse Maschinendaten ablesen und manuell erfassen sowie weitere Informationen, etwa zur Qualität, in andere Systeme übertragen. Ausbaupotenzial für die Digitalisierung gibt es also in beiden Richtungen, vertikal und horizontal.

«Low Code kann seine Vorteile in vielen Szenarien ausspielen, sowohl bei der Digitalisierung von ganzen Produktionsprozessen als auch bei einzelnen Produktionsschritten.»

Hanspeter Groth

Warum ist der Shopfloor noch nicht digitalisiert?

Hersteller von Standardprodukten, die in grossen Losgrössen produzieren – zum Beispiel Kühlschränke oder Ventile – können ihre Produktion relativ einfach digitalisieren. Der Herstellungsprozess ist standardisiert. Damit ist auch die Hürde für die Digitalisierung beherrschbar. Der Trend geht jedoch immer mehr hin zu kundespezifischen Produkten bis zu Losgrösse 1, wobei jedes Produkt einem abweichenden Herstellungsprozess folgt und der Kunde teils Änderungswünsche bis in letzter Minute anbringt.

Welche Probleme ergeben sich daraus?

Es wird schwierig, die Übersicht zu behalten und die Qualität zu sichern: Je wichtiger der individuelle Charakter eines Produkts ist, desto aufwändiger wird die Digitalisierung. Es stellt sich die Frage, ob die Kosten den Nutzen rechtfertigen.

Lässt sich der Trend zur kundenspezifischen Produktion belegen?

Ja, und zwar ziemlich konkret. Der Swiss Manufacturing Survey 2022 der Universität St. Gallen weist nach, dass die 308 befragten industriellen Schweizer KMU und Grossunternehmen stark auf kundenspezifische Produkte setzen, die sie nach den Modellen Engineer-to-Order (30 %), Make-to-Order (29 %) oder Assemble-to-Order (15 %) herstellen. Nur 26 Prozent arbeiten ausschliesslich oder auch nach dem Konzept Make-to-Stock, also mit Lagerprodukten, die unabhängig von Kundenaufträgen hergestellt werden.

Gibt es weitere Herausforderungen?

Eine Herausforderung ist die Tatsache, dass der Maschinenpark in sehr vielen Betrieben viele Generationen umfasst, oft auch jahrzehntealte. Solches «Brown Field Equipment» ist zum Teil nicht mit digitalen Schnittstellen ausgestattet oder arbeitet mit unterschiedlichsten Schnittstellen und Datenprotokollen und lässt sich nur mit grossem Aufwand integrieren. Auch der Standort spielt eine Rolle: Eine zentrale Produktion an einem Standort lässt sich leichter digitalisieren als die verteilte Fertigung in zehn Werken. Dies gilt gerade dann, wenn an verschiedenen Orten unterschiedliche Maschinen und Mitarbeitende mit unterschiedlichem Know-how eingesetzt werden.

Wie bringen Firmen ERP und PLM mit dem Shopfloor zusammen?

Das Allerwichtigste ist ein solides, durchdachtes Gesamtkonzept, das neben technischen Aspekten auch Faktoren wie Data Governance und Cybersecurity abdeckt. Ohne dieses «Big Picture» wird es nicht funktionieren. Auf der Basis des Gesamtkonzepts lässt sich dann die optimale Technologie ermitteln: Nimmt man etwas, das schon vorhanden ist (zum Beispiel durch Erweiterung der ERP- respektive PLM-Lösungen), führt man eine umfassende MES-Lösung (Manufacturing Execution System) ein oder greift man zu neuen Ansätzen wie Low Code?

Hanspeter Groth, Swisscom

Stichwort Low Code: Was ist darunter zu verstehen?

Mit den heutigen Low-Code-Werkzeugen ist es möglich, Prozesse zu digitalisieren und zu vereinfachen und dabei repetitive Arbeiten zu automatisieren. Die Entwicklung erfolgt weitgehend ohne komplexen Programmcode und mit Hilfe von Drag&Drop-Designern. Formelsprachen im Stil von Excel bilden die notwendige Geschäftslogik ab. Damit können im Sinne der Demokratisierung der Digitalisierung auch prozesskundige Mitarbeitende ohne vertiefte Programmierkenntnisse die Digitalisierung aktiv und schnell vorantreiben. Das ist in Zeiten des IT-Fachkräftemangels ein attraktives Ziel.

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Wozu eignen sich Low-Code-Plattformen im Shopfloor konkret?

Mit Low-Code-Plattformen lassen sich Produktionsprozesse unkompliziert digitalisieren und von Papier befreien. Low Code kann seine Vorteile in vielen Szenarien ausspielen, sowohl bei der Digitalisierung von ganzen Produktionsprozessen als auch bei einzelnen Produktionsschritten. Low-Code-Plattformen tragen dabei nicht nur zur einfacheren Dateneingabe und besseren Datenqualität bei, sie dienen auch als Datendrehscheibe zwischen den involvierten Systemen, inklusive Anpassung der Datenstrukturen beim Transport. Dadurch schafft Low Code auch die Basis für Datenauswertungen und komplexen Analysen.

Was ist der konkrete Nutzen von Low Code?

Low-Code-Plattformen helfen, die digitale Transformation zu beschleunigen. Mit einer kürzeren Time-to-Value beeinflussen sie die Kosten-Nutzen-Kalkulation jedes Digitalisierungsvorhabens erheblich.

Welche Low-Code-Plattformen gibt es?

Der Markt für Low Code im industriellen Umfeld ist überschaubar. Erwähnenswert sind die Anbieter Mendix und Microsoft. Dabei hat besonders Microsoft mit seiner Power Platform einen rasanten Marktstart hingelegt. Die Power Platform bietet hervorragende Integrationsmöglichkeiten in Microsoft 365 und Dynamics 365 sowie Microsoft Azure. Besonders die Integration in die Zusammenarbeitslösung Microsoft Teams eröffnet kreative Lösungswege. Für die Integration von heterogenen Systemlandschaften stehen hunderte von Konnektoren zur Verfügung, darunter zu SAP, Oracle, ServiceNow und Salesforce. Auch proprietäre und hauseigene Lösungen lassen sich über generische Schnittstellen anbinden, oder über RPA (Robotic Process Automation) durch synthetisierte Eingaben automatisieren.

Wie geht man bei der Einführung einer Low-Code-Plattform vor?

Low Code eignet sich besonders für die schnelle Umsetzung einzelner Anwendungsfälle im Sinne von Rapid Prototyping. Dabei lernt der Kunden am lebenden Objekt die Vorzüge von Low Code kennen. Damit bei einer späteren Skalierung des Anwendungsfall nichts aus dem Ruder läuft, ist ein Governance-Konzept für die Low-Code-Plattform entscheidend. Dabei wird die Plattform hinsichtlich Sicherheit und Compliance ausgehärtet und in die Standards des Unternehmens integriert.

Was gilt es sonst noch zu beachten?

Bei einer strategischen Nutzung von Low Code im Unternehmen muss zusätzlich der Aufbau eines Center of Excellence erfolgen, dass die Aktivitäten auf der Plattform überwacht und die Skalierung begleitet. Bei einer erfolgreichen Einführung tritt zügig eine Hebelwirkung ein und weitere Anwendungsfälle können auf dem Erreichten aufbauen. Ein aktives Low-Code-Portfolio-Management stellt sicher, dass es hier nicht zu Wildwuchs kommt.

Wo liegen die Grenzen von Low Code?

Grundsätzlich kann mit Low Code praktisch alles erreicht werden. Ob es sich aber in jedem Fall um die bestmögliche Lösung handelt, ergibt sich aus den Spezifika des Anwendungsfalls oder der jeweiligen Branche. Müssen komplexe regulatorische Auflagen erfüllt werden (Audit-Trails) oder sind hochskalierende Lösungen gefragt, kann der Zukauf einer darauf spezialisierten Lösung oder konventionelle Softwareentwicklung (High Code) sinnvoller sein. Identisches gilt bei exotischen oder proprietären Anforderungen. Zu erwähnen ist, dass Low Code, Standardlösungen und konventionelle Softwareentwicklung kombinierbar sind und sich nicht gegenseitig ausschliessen.

Können Sie ein Beispiel für ein Schweizer Low-Code-Projekt nennen?

Ein Paradebeispiel ist die Geobrugg AG, die Schutzlösungen gegen Naturgefahren wie Steinschläge, Erdrutsche oder Lawinen anbietet und weltweit produziert. Früher kam für das Reporting der Maschinendaten eine fehleranfällige und zeitaufwändige Lösung auf Basis zahlreicher Exceldateien zum Einsatz. Heute setzt Geobrugg auf eine mit Unterstützung von Swisscom entwickelte Low-Code-App auf Basis der Microsoft Power Platform. Damit lassen sich Maschinendaten einfacher erfassen und validieren. Die dadurch erreichte Datenqualität erlaubt komplexe Analysen und Vorhersagen, die direkt in der Azure-Cloud durchgeführt werden.

Wie unterstützt Swisscom die Digitalisierung der Produktion mit Low Code?

Wir unterstützen bei der strategischen Ausrichtung, der konkreten Umsetzung des Anwendungsfalls auf der Low-Code-Plattform, dem Aushärten der Plattform im Sinne der Data Governance und dem Change-Management. Dabei gehen wir technologie-agnostisch vor und finden zusammen mit dem Kunden die passende Lösung. Dies umfasst neben Low Code auch andere Technologien wie konventionelle Softwareentwicklungen. Im Fokus stehen auch SAP-zentrische Systemlandschaften, die Swisscom auf die Bedürfnisse anpasst oder den Betrieb übernimmt. Auch bei bereits geplanten Projekten kann Swisscom eine unabhängige Zweitmeinung abgeben.

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