Reverse Mentoring in Unternehmen
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Wenn die «Alten» von den Jungen lernen

Lernende sind auch Lehrer: Noch nie konnten Unternehmen so ausgeprägt vom Digitalwissen profitieren, das Berufseinsteiger mitbringen. «Reverse Mentoring» ist ein Modell mit und für die Zukunft – und eine Chance auch für kleinere Unternehmen.

An manchen Tagen geht Can Franco Garaio besonders zufrieden in den Feierabend. Es sind die, an denen der Youngster gestandenen Berufsleuten etwas aus seiner Lebenswelt vermitteln kann. Zum Beispiel, wie ein digitales Kommunikationssystem funktioniert. Oder wie man eine Onlinebesprechung durchführt.

Wenn Lernende Unternehmen auf die Zukunft vorbereiten

Der 16-Jährige steht im zweiten Lehrjahr bei Swisscom und arbeitet im Work Smart-Team, das Unternehmen bei der Umstellung auf flexible Arbeitsformen unterstützt. Ziel ist es, die digitale Fitness in den Firmen zu erhöhen und Denk- und Arbeitsweisen auf die vernetzte Zukunft einzustellen.

Sein Wissen gibt Can Franco Garaio nach dem Prinzip des Reverse Mentorings weiter. Dieses geht von der Tatsache aus, dass die Jungen den «Alten» punkto Digitalisierung um Längen voraus sind. Warum also nicht die Berufsleute vom Wissen der Jungen profitieren lassen? Anders als im klassischen Mentoring, bei dem ein Senior einen Junior an seiner Erfahrung teilhaben lässt, coacht beim Reverse Mentoring die jüngere die ältere Generation – und hilft so Unternehmen, den Anschluss an neue Technologien und Arbeitsweisen zu schaffen. Damit schaffen sich Firmen eine bessere Ausgangslage, um in einer digitalisierten Welt zu bestehen.

Can Franco Garaio, Lernender bei Swisscom
Can Franco Garaio.

Als geistiger Vater dieses Konzepts gilt Jack Welch, der legendäre Chef des US-Konzerns General Electric. Er erkannte schon vor 20 Jahren, dass sein Personal Nachhilfe im Fach Digitalisierung brauchte. Deshalb forderte er die Führungskräfte auf, jüngere Mentoren zu finden, die ihnen das Internet erklärten. Welch selbst ging mit gutem Beispiel voran und machte die Idee zunächst in den USA populär. Unternehmen können Reverse Mentoring als externe Dienstleistung beziehen, aber auch mit Lernenden im eigenen Betrieb selbst durchführen.

Beide Seiten profitieren

Can Franco Garaio hat schon manchen Betrieb in die digitale Welt begleitet. «Es macht mich glücklich und stolz, wenn ich jemandem etwas Neues beibringen kann», sagt er. Der Wissenstransfer geschieht gruppenweise in Workshops oder in Coachings direkt an den Arbeitsplätzen der Kunden. Widerstände oder Berührungsängste spürt er kaum, seine Mentees empfindet er als offen und lernwillig. Da auch er vom Wissen der Älteren profitieren und sich durch sie weiterentwickeln können, seien Altersunterschiede kein Thema.

Diese Erfahrung machte auch Christoph Röcker, Projektleiter der internen Informatik bei Finnova. Als das IT-Unternehmen ein neues Telefonsystem einführte, mussten alle rund 400 Mitarbeitenden mit der Technologie vertraut gemacht werden. Swisscom schlug Workshops nach dem Reverse-Mentoring-Prinzip vor. «Mit gefiel die Idee von Anfang an», sagt Christoph Röcker, «aber es war auch ein Wagnis, zumal viele Mitarbeitende gestandene IT-Profis sind». Auch wenn die Lernsituation ungewohnt gewesen sei, hätten die Mitarbeitenden positiv auf die Jungen reagiert. Dies darum, weil die Jungen mit grosser Professionalität an die Coachings herangingen. Bei Bedarf würde er jederzeit wieder ein Reverse Mentoring durchführen.

«Barrieren abbauen»

20 Jahre nach Jack Welch ist die Idee also längst auch in Europa angekommen. Reverse Mentoring setzen unter anderem Lufthansa, Credit Suisse und Roche ein, wo der Rollentausch zur Unternehmenskultur gehört. So liess sich zum Beispiel der gestandene Roche-Manager Adriano Treve von seiner jüngeren Kollegin Özge Uzum coachen: «Es geht nicht nur um neue Technologien, sondern darum, Brücken zu bauen und zu verstehen, wie die junge Generation tickt, welche Werte sie hat und was für sie im Job wichtig ist», sagt Treve. Özge Uzum sieht es so: «Das Reverse Mentoring war eine gute Gelegenheit, dem Chef meine Motivation zu zeigen. Das braucht Wille, Vertrauen und Offenheit. Und plötzlich werden Barrieren abgebaut.»

So gelingt Reverse Mentoring

Lernbereitschaft: Sowohl Mentor als auch Mentee müssen voneinander lernen und Erfahrungen und Wissen austauschen wollen.

Offenheit: Beide Parteien sollten offen über ihre Erwartungen, Gedanken und Gefühle sprechen und bereit sein, Feedbacks anzunehmen.

Toleranz: Die junge und die ältere Generation müssen bereit sein, den Standpunkt des anderen einzunehmen und sich auf einen Perspektivenwechsel einzulassen.

Bis jetzt nutzen vor allem grössere Unternehmen in der Schweiz Reverse Mentoring. Doch dieser Ansatz funktioniert genauso gut für KMU. Das zeigt das Beispiel der Designagentur Maxomedia. Sie entwickelte für den Verband Schweizer Interactive Media Designer (SIMD) eine neue Website, um auf das junge Berufsbild aufmerksam zu machen. Zwei Lernende wurden vom Konzept bis zur Realisierung mit dem Projekt beauftragt. «Es braucht Mut, die Jungen einfach machen zu lassen», sagt Diego Martinez von Maxomedia, «am Ende war es aber ein Gewinn für alle».

Die Jugendlichen brachten ihr Know-how inhaltlich und beim Screen Design ein. Sie setzten auf knallige Farben und einen frischen Auftritt mit Morphing-Technik, um die designaffine Zielgruppe anzusprechen.

An Selbstsicherheit gewonnen

Mut brauchte auch Can Franco Garaio, als er die ersten Male Menschen coachte, die mehr als doppelt so alt waren wie er.  «Ich war aufgeregt», erinnert er sich an seinen Einstand. Ähnlich ist es schon vielen seiner Kollegen ergangen. In den letzten drei Jahren haben über 40 Swisscom Lernende mehr als 50 000 Nutzer in Unternehmen verschiedener Grössen und Branchen begleitet.

Doch je mehr Fragen Can Franco Garaio beantworten konnte, desto selbstsicherer wurde er – und desto häufiger erlebte er diese Glücksmomente, wenn ein Schützling wieder etwas begriffen hat.

Reverse Mentoring: Lernende als Coach

Fotos: Boris Baldinger

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